Nach der OP schien das Kapitel geschlossen. Dann ging plötzlich die Tür auf und mit ihr eine neue Art von Angst.
„Dr. Voss? Es geht um Mareike und ihre Tochter. Wir brauchen Ihre Einschätzung.“ Da verstand ich: Manchmal beginnt das Eigentliche erst, wenn der Schnitt längst zu ist.
Ich war an diesem Vormittag nicht im Krankenhaus. Ich hatte mir angewöhnt, solche Tage wirklich frei zu halten, zumindest auf dem Papier. Kaffee, Zeitung, eine Viertelstunde Stille, bevor das Telefon wieder Dinge in mein Wohnzimmer trägt, die dort eigentlich nicht hingehören.
Als es klingelte, sah ich die Nummer der Klinik. Ein Reflex: aufrichten, als würde jemand gleich den Schnitt setzen. Ich nahm ab, und schon an der ersten Stimme merkte ich: Das ist nicht OP, das ist Alltag. Und Alltag kann leiser sein, aber nicht weniger schwer.
„Voss“, sagte ich.
Die Sozialarbeiterin der Station, Frau Kroll, sprach ruhig. Ihre Sätze klangen nie nach Alarm, eher nach Verantwortung. „Herr Doktor, es geht um Mareike. Medizinisch ist sie stabil. Aber es gibt eine Meldung, und damit eine kurze Klärung durch eine zuständige Stelle.“
„Worum geht es genau?“, fragte ich.
„Um die Betreuung der Tochter in der Übergangszeit“, sagte Frau Kroll. „Nach so einem Zusammenbruch werden manchmal Fragen gestellt – nicht als Vorwurf, eher als Absicherung. Mareike hat trotzdem große Angst.“
Ich schwieg kurz. Nicht, weil ich es nicht verstand. Sondern, weil ich den Moment kannte, in dem ein Mensch nach einer Rettung plötzlich wieder kämpfen muss – nur diesmal nicht gegen ein Aneurysma, sondern gegen Unsicherheit.
„Was brauchen Sie von mir?“, fragte ich.
„Ihre Einschätzung. Und… Ihre Stimme“, sagte Frau Kroll. „Sie vertraut Ihnen. Und sie fühlt sich gerade sehr allein damit.“
Als ich auflegte, merkte ich erst, dass ich den Kaffee noch nicht angerührt hatte. Ich sah die Tasse an, als wäre sie etwas aus einem anderen Leben. Im OP hätte ich jetzt Handschuhe angezogen. Hier blieb mir nur: hinfahren.
Auf der Station war das Licht zu hell, wie es in Krankenhäusern oft ist. Neon macht alles gleich wichtig: Betten, Gesichter, Akten. Vor dem Zimmer hing eine Mappe mit Formularen, und ich wusste sofort: Das hier ist nicht Medizin im engen Sinn. Das ist Medizin im echten Leben.
Mareike saß im Bett, aufgerichtet, mit diesem vorsichtigen Blick, den man nach einem Ereignis hat, das einen beinahe aus dem Leben geschoben hätte. Neben ihr lag ein Stofftier – nicht neu, eher so ein Ding, das man nicht ersetzt, weil es mit einem zusammen durch schwere Tage gegangen ist. Auf dem Stuhl hing eine kleine Jacke, als würde sie still sagen: Hier wartet noch jemand.
Ihre Tochter saß wieder zu hoch auf einem Stuhl. Wieder konzentriert über etwas Gebogenem, als könnte sie mit stiller Beschäftigung verhindern, dass Erwachsene kippen. Diesmal waren es Aufkleber, die sie sorgfältig von der Folie zog. Sterne, Herzen, bunte Punkte. Ordnung, wo keine ist.
Als Mareike mich sah, versuchte sie zu lächeln. Es gelang nur halb. Dann kam dieses Zittern an den Mundwinkeln, das nicht nach Schmerz aussieht, sondern nach Unsicherheit.
„Herr Doktor…“, sagte sie. „Ich wollte nicht, dass Sie das… mitbekommen.“
„Ich auch nicht“, antwortete ich. „Aber jetzt bin ich da.“
Frau Kroll klopfte kurz an den Rahmen und trat ein. Hinter ihr stand eine Frau, sachlich gekleidet, freundlich im Gesicht. Ihr Blick war aufmerksam, nicht hart. Sie stellte sich vor als Frau Seidel, „von der zuständigen Stelle“. Ein Satz, der nichts erklärt und doch sofort Druck erzeugen kann.
„Dr. Voss“, sagte sie. „Danke, dass Sie sich Zeit nehmen. Nach einem schweren medizinischen Ereignis klären wir manchmal, wie die Betreuung eines Kindes in der nächsten Zeit abgesichert ist. Das ist in erster Linie eine Frage der Organisation.“
Ich nickte langsam. „Organisation ist gut. Angst ist schlecht. Und im Moment sitzt hier viel Angst.“
Mareike zog die Decke ein Stück höher, als könne sie sich damit schützen. Ihre Hände lagen auf dem Stoff wie festgenagelt. Arbeiterhände, kleine Risse an den Knöcheln.
Frau Seidel setzte sich jetzt. Das war ein kleines Zeichen, aber es war eins. „Ich verstehe“, sagte sie. „Mir ist wichtig, dass klar ist: Wir kommen nicht, um jemanden zu beschuldigen. Wir kommen, um zu schauen, was in der Übergangszeit hilft.“
Ich bat darum, kurz mit Mareike allein zu sprechen, bevor wir über Schritte reden. Frau Seidel nickte, ohne Widerstand. Frau Kroll blieb an der Tür stehen, als wolle sie nur sicher sein, dass niemand wieder allein gelassen wird.
Als die Tür zu war, atmete Mareike hörbar aus, als hätte sie die Luft vorher festgehalten.
„Ich hab Angst, dass ich etwas falsch mache“, flüsterte sie. „Dass ich’s nicht schaffe.“
„Sie haben nichts falsch gemacht“, sagte ich. „Sie sind zusammengebrochen und das ist etwas, das man nicht plant. Jetzt geht es nicht um Schuld, sondern um Sicherheit. Für Sie. Und für Ihre Tochter.“
Sie schüttelte den Kopf. Tränen standen, fielen aber noch nicht. „Ich war nur… müde. Immer. Ich hab Schicht, ich hab Kita, ich hab… alles. Und dann klingt es plötzlich so, als wäre das ein Zeichen, dass ich nicht genug bin.“
„Sie waren überlastet“, sagte ich. „Das ist keine Charakterschwäche. Das ist Mathematik.“
Da kamen die Tränen. Nicht als Drama. Eher als Abfluss. Es tat weh, sie anzusehen, weil ich wusste: Manche Menschen halten jahrelang durch, bis der Körper irgendwann einfach entscheidet.
„Ich hab so Angst, dass es wieder passiert“, sagte sie. „Dass ich wieder einfach wegknicke. Und dann…“
Sie sah zu ihrer Tochter. Die Kleine klebte einen Stern auf ein Blatt Papier, drückte ihn fest, damit er hält. Ein winziger Finger, der ernst arbeitet.
„Diese Angst ist normal“, sagte ich. „Und genau deshalb brauchen Sie jetzt etwas ganz Einfaches: einen Plan. Einen, der Sie entlastet – nicht einen, der Sie prüft.“
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