Hier riecht etwas nach altem Leder, nach kaltem Rauch, nach versprochenem Brot.
In der Dämmerung glänzt eine Messingkante wie ein Atemzug, der nie ganz erlosch.
Jemand hat den Namen eingeritzt, mit einer Hand, die zitterte und doch entschied.
Ein Tier blickt nicht zurück und doch bleibt sein Weg im Staub.
Im Stall hält die Stille den Atem an, als würde sie warten, dass einer pfeift.
🐾 Teil 1: Das Halsband im Heu
Ringenwalde in der Uckermark, Oktober 2016. Ein kalter Nachmittag, die Kraniche riefen über den Feldern, und der Sandweg hinter der Backsteinscheune war schon vom ersten Reif angegraut.
Raban Teschke stand im Stall und schob feuchtes Heu zur Seite. Er war dreizehn, schmal, die Ärmel aufgekrempelt. Seine Hände rochen nach Eisen und Stroh. Auf dem Querbalken saß eine schläfrige Taube und nickte.
Iska, seine Hündin, streifte ihm um die Beine. Ihr Fell war grauweiß, vom Sommer noch stumpf, eine Ohrspitze geknickt. Sie stieß die Schnauze in jede Ritze und zog Luft, als läse sie Sätze, die sonst keiner sah.
Die Schubkarre rumpelte gegen eine lockere Diele. Der Balken gab nach, ein Spalt öffnete sich. Dahinter lag etwas Dunkles, verstaubt und doch nicht vergessen. Raban kniete sich hin. Er fuhr mit den Fingern in die kalte Fuge und holte das Ding heraus.
Ein Hundehalsband. Dickes, rissiges Leder. Eine Messingplatte, stumpf wie alter Honig. Jemand hatte mit einem Nagel Schrift in die Platte geritzt. Der Name stand schief da, als wäre er heimlich geschrieben worden. Jasko.
Raban wischte mit dem Ärmel über das Metall. Unter dem Namen stand Winter 1947. Am Rand verlief eine tiefe Kerbe. Der alte Geruch stieg auf, ölhaltig und schwer. Er war fremd und gleichzeitig vertraut, als hätte er im Holz der Scheune weitergelebt.
Iska zog scharf die Luft ein. Ihr Körper spannte sich, die Augen wurden dunkel und ruhig. Sie legte die Schnauze an das Leder und verharrte. Dann hob sie den Kopf und lauschte zum Tor, als ob draußen jemand auf sie wartete.
Die Tür öffnete sich. Alwin Teschke trat ein, Rabans Großvater. Er trug den braunen Arbeitsmantel, der am Kragen nach Leinöl roch, und den Filzhut, der ihm seit Jahren etwas zu groß war. Seine Schultern fielen kurz, als er den Gegenstand sah.
Er blieb stehen, genau zwei Schritte entfernt, als wäre der Boden unsicher geworden. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Dann ging er langsam weiter, setzte sich auf den Melkschemel und legte die Hände auf die Knie. Die Finger waren breit und vernarbt.
„Woher hast du das“, fragte er leise.
„Hinter der Diele“, sagte Raban. „Es lag da einfach.“
Alwin sah nicht das Halsband an. Er sah an Raban vorbei, in die Ecke, wo feuchtes Heu gegen den Ziegel lehnte. In seinen Augen lag etwas, das sowohl viel älter als er war als auch nur einen Atemzug entfernt.
„Ich dachte, es wäre weg“, sagte er. „Seit Jahren. Seit Jahrzehnten.“
Raban setzte sich auf den Boden. Iska legte sich neben ihn und schob ihre Pfote so, dass sie das Leder berührte. Der Junge spürte den Blick des Großvaters auf der Messingplatte und das kleine Zittern, das in dessen Stimme blieb.
„Wer war Jasko“, fragte er. „Dein Hund?“
Alwin legte den Hut neben sich, als hätte er schweres Gepäck abgesetzt. Er nickte kaum sichtbar.
„Er hat uns durchgebracht“, sagte er. „Damals. Als nichts zu holen war. Er war kein Hund wie andere. Er ging, wenn ich schwieg. Er fand, wenn ich noch nicht wusste, was ich suchte.“
Er schwieg, als hörte er etwas, das nur er hören konnte. Dann nahm er das Halsband in beide Hände. Sein linker Daumen folgte der Kerbe am Rand.
„Der Winter war hart“, sagte er. „Der Krieg war längst vorbei und doch nirgends weg. Wir hatten Kartoffeln im Sand verscharrt und Rüben, wo noch welche standen. Jasko holte Kaninchen aus den Brombeeren und zeigte mir die Pfade durch die Sümpfe, wo keine Stiefel uns fanden. Er trug uns die Tage hinüber, Raban. Ich war fünfzehn. Und hungrig wie alle.“
Iska hob den Kopf und atmete flach. Sie stand auf und drängte zur Tür. Der Wind fuhr in die Scheunendiele und brachte den Geruch von feuchter Erde hinein. Diese Kälte war ein anderes Schweigen.
„Warte“, sagte Raban. „Sie will raus.“
Alwin nickte und stand auf. „Nimm das Halsband mit“, sagte er. „Vielleicht zeigt sie dir etwas. Aber pass auf. Der Boden kann trügen.“
Sie traten hinaus. Draußen lagen die Felder flach und weit. Auf dem Grabenrand stand ein verblasstes Schild, das früher die Flur bezeichnet hatte. Klusener Ackerspitze. Der Name war alt und roch nach Aktenstaub.
Iska lief nicht, sie glitt. Ihre Pfoten setzten bedacht an. Sie hielt die Nase knapp über der Erde und zog einen Bogen Richtung Nordhecke. Dort, wo die Feldsteinmauer noch stand, rissig und mit Moos. Raban folgte ihr mit dem Halsband in der Hand, als trüge er ein Stück fremder Zeit.
„Er hat hier gewartet“, sagte Alwin hinter ihm, mehr zu sich selbst. „Wenn ich pfeife, kommt er. So war das.“
„Pfeif doch“, sagte Raban.
Der Alte legte Zeigefinger und Daumen an die Lippe, zögerte und nahm die Hand wieder weg. Er schüttelte den Kopf.
„Nicht hier“, sagte er. „Nicht ohne Grund.“
Iska sprang ein kleines Stück in das Gestrüpp. Ein trockenes Rascheln, dann ein helles Bellen, kurz und hart. Raban schob die Zweige auseinander. Hinter der Hecke senkte sich der Boden in einen flachen Hohlweg. Die Kante war mit Laub bedeckt.
Er sah den Eisenring zuerst. Er lag halb frei, als hätte jemand ihn vor vielen Jahren zugezogen und dann vergessen. Ein schmaler Deckel zeichnete sich im Erdreich ab. Holz, das weich geworden war, und doch hielt.
Raban kniete sich hin. Er legte das Halsband ab, griff nach dem Ring und zog. Der Deckel bewegte sich kaum. Feiner Sand rieselte in die Fuge. Ein scharfer Geruch stieg auf, alt wie Keller und zugleich frisch wie freigegebenes Wasser.
„Nicht allein“, sagte Alwin. „Warte.“ Er kam neben ihn und fasste unter den Ring. Seine Hand war fest, die Sehnen traten hervor. „Auf drei“, sagte er. „Eins, zwei, drei.“
Der Deckel gab nach. Eine Luft kam ihnen entgegen, kühl und still. Raban hielt unwillkürlich den Atem an. In der Dunkelheit darunter schimmerte etwas Helles, als sei Metall da unten. Oder Glas.
Iska stand dicht an Rabans Schulter. Ihr Fell strich an seine Jacke. Sie legte die Schnauze an die Öffnung und zog eine lange, leise Spur Luft. Dann sah sie auf, nicht suchend, sondern wissend.
„Was ist das“, flüsterte Raban.
„Ein Versteck“, sagte Alwin. „Wir hatten mehrere. Manchmal waren es nur zwei Blechtöpfe. Manchmal ein Holzkasten. Dies hier hat mein Vater gebaut. Und Jasko fand die Wege, die wir gehen konnten, ohne Spuren zu hinterlassen.“
Er ging in die Hocke. Seine Finger tasteten an der Kante entlang, fanden eine kleine Aussparung. Holz knirschte, als er drückte. Unter dem Deckel lag ein Kasten. Schmal, mit einem Zeichen auf dem Deckel, eingeritzt und mit einer dunklen Masse gefüllt. Es war das gleiche Zeichen, das am Rand der Messingplatte eingeritzt war. Ein zweites, zitterndes Mal.
Alwin sah Raban an. „Ich habe es in der damaligen Kälte nicht aufbekommen“, sagte er. „Als wir zurückkamen, war der Schnee höher als die Steine. Und in einem Jahr danach war es nicht mehr wichtig. So reden wir es uns ein. Aber es blieb wichtig. Denn nicht alles, was wir nicht öffnen, ist harmlos verschlossen.“
Er hob den Kasten an. Er war erstaunlich leicht. Drinnen bewegte sich etwas, weich und trocken. Etwas rollte gegen die Innenwand und blieb.
Ein leises, hartes Geräusch kam von der Straße, als würde jemand langsam mit dem Fahrrad fahren. Ein kurzer Schatten glitt über den Weg. Raban fuhr herum. Die Straße war leer. Nur der Wind legte sich schwer über die Pappeln.
„Komm“, sagte Alwin. „Zurück in die Scheune. Hier draußen sind die Gedanken zu laut.“
Sie trugen den Kasten hinein. Auf dem Werkbankbrett legte Alwin ihn ab. Er schob die alte Lampe näher, deren Schirm aus emailliertem Blech einen grünlichen Glanz auf das Holz warf. Raban fühlte sein Herz klopfen, als würden die Kraniche darin ihren Flug ordnen.
Alwin zog seinen Taschenmesser aus der Manteltasche. Die Klinge war stumpf am Rücken, aber an der Schneide sauber gepflegt. Er führte sie an die kleine Verschlusslasche. Das Holz war hart wie ein altes Brot.
„Bevor wir aufmachen“, sagte er und sah Raban an, „musst du etwas wissen. Es gibt Geschichten, die nicht erzählt werden wollten. Nicht, weil niemand sie hören konnte, sondern weil wir es nicht ertragen haben, sie noch einmal zu atmen. Jasko hat uns gerettet. Und er hat uns einmal nicht retten können. Beides ist wahr.“
Iska legte den Kopf auf die Werkbank. Ihre Augen glitzerten dunkel. Sie hob den Blick zu dem Halsband und senkte ihn wieder auf den Kasten. Ihr Atem war ruhig und doch gespannt.
„Was ist da drin“, fragte Raban.
„Vielleicht nichts“, sagte Alwin. „Vielleicht das, was mir fehlt, seit ich fünfzehn war.“
Er drückte die Klinge in die Fuge. Ein Riss ging über den Deckel, ein sanftes Aufbrechen, wie eine gefrorene Pfütze unter einem Schritt. Der Deckel gab nach. Aus dem Kasten stieg ein Geruch auf, der aus Papier bestand und aus kalter Asche.
Oben lag ein Tuch. Graublau, wie die alten Säcke. Darunter etwas Rundes, das gegen die Wand gekullert war. Ein verschlossener Blechknopf. Und ein Bündel kleine Zettel, beigefarben und am Rand brüchig.
Alwin streckte die Hand aus, stoppte und zog sie zurück. Er atmete ein und aus, einmal, zweimal. Raban sah, wie sein Adamsapfel bewegte, als hätte er Schluckauf ohne Laut.
„Nicht alles auf einmal“, sagte der Alte. „Heb du das Tuch an.“
Raban griff nach dem Stoff. In dem Moment donnerte draußen ein kurzer Schlag, als wäre irgendwo etwas Schweres aus der Hand gefallen. Iska fuhr herum, sprang vom Hocker und rannte zur Tür. Sie bellte, ein einziges Mal, tief und seltsam fremd.
„Iska“, rief Raban.
Sie stand im Türrahmen, die Muskeln straff, der Körper vorwärts geneigt. Dann machte sie einen Satz in die Dämmerung, als folge sie einem Ruf, der durch keinen Laut kam.
Raban ließ das Tuch los. Es fiel zurück und das Blech im Kasten klirrte leise. Er rannte hinterher, stolperte über die Schwelle und sah noch gerade, wie Iska am Rand des Hofes stehen blieb, den Kopf hoch und die Nase im Wind. Ihre Pfoten zeichneten dunkle Halbmonde in den Frost.
Alwin blieb in der Tür stehen. Seine Hand lag am Rahmen, als bräuchte er ihn zum Atmen. In seinem Gesicht war etwas, das nur bei Menschen erscheint, die eine alte Schuld in der Tasche tragen wie einen glatten Stein.
„Wenn sie dorthin will, wo er mich damals hinführte“, sagte er tonlos, „dann wird es Zeit.“
Die Kraniche riefen erneut. Der Hof hielt den Atem an. Raban setzte den Fuß auf den Sandweg und spürte, wie der Boden unter ihm ganz leicht nachgab, als würde darunter etwas liegen, das schon lange auf eine Hand gewartet hatte.
🐾 Teil 2: Der Ruf aus dem Moor
Der Sandweg fühlte sich weich an unter Rabans Schuh, als hätte jemand darunter eine Decke aus vergangenem Atem ausgebreitet. Die Kälte arbeitete sich in seine Hosenbeine, der Abend machte die Farben stumpf. Iska stand schon am Rand des Hofes, die Ohren hoch, den Körper eine Spur vor der Pfote.
Alwin kam langsamer. Er stützte sich kurz an den Türrahmen, als müssten die Jahre in der Handfläche zur Ruhe kommen. Dann trat er zu Raban, der das Halsband festhielt, als hielte er eine Lampe ohne Licht.
Iska setzte sich in Bewegung. Kein Rennen. Ein flaches Gleiten, bei dem die Muskeln unter dem Fell nur zu ahnen waren. Sie nahm die Hecke entlang, dorthin, wo vor Jahren der Hohlweg in den Sand geschnitten worden war und später die Brombeeren ihn zurückerobert hatten.
Raban hob das Halsband. Er spürte die Nähte und die raue Stelle an der Kerbe. Die Messingplatte war kalt wie das Blechdach der Scheune in der Winternacht. Er hielt sie so, dass Iska den Geruch greifen konnte.
Die Hündin blieb stehen, roch, sah Raban an, als prüfe sie seine Ruhe, und bog dann ab zum alten Weidenstumpf. Dort, wo das Grundwasser gern hochstieg und ein Modergeruch wie eine dunkle Erinnerung im Gras lag. Ihr rechter Vorderlauf scharrte vorsichtig in den Sand. Kein hastiges Kratzen. Ein Abtasten.
Unter der dünnen Schicht Laub kam ein dünner Draht zum Vorschein. Grünspan an manchen Windungen, eine kleine Schlaufe am Ende. Daneben lag ein Holzspan, sauber eingeschnitten, als hätte ein Messer vor langer Zeit im kalten Licht der Dämmerung gearbeitet.
Alwin ging in die Hocke. Seine Finger wogen den Draht, als könne er das Jahr daraus lesen. Er nickte kaum merklich.
Das haben wir gebaut, sagte er leise. Nicht aus Lust am Fangen. Aus Hunger. Manchmal fanden wir nur Spuren. Manchmal hat Jasko uns an den Tag gebracht, an dem wir nicht aufgaben.
Er schwieg, und das Schweigen war nicht leer. Er sah auf die Rinde der Weide, in der Risse liefen wie flache Flüsse. Sein Blick lag einen Moment lange hinter den Jahren. Dann atmete er aus.
Einmal stand er so still, sagte er, dass ich begriff, wie laut mein Herz war. Die Stiefel kamen auf dem Feldweg, nicht schwer, eher müde. Zwei Männer, die lachten, als gehörten die Geräusche ihnen. Wir lagen hinter diesem Stamm. Jasko atmete langsam. Er atmete nicht für sich, er atmete für uns.
Iska hob den Kopf und lauschte in dieselbe Richtung, aber die Feldkante war leer. Ein Traktor war weit weg zu hören, ein dumpfes Rollen in der Ferne. Die Luft roch nach Eisenkraut und einem Rest von Regen.
Raban bückte sich und hob neben dem Draht ein kleines Stoffstück auf. Grau, mit einem blauen Faden am Rand. Das Blau war kaum noch zu sehen, aber es war da. Er dachte an das graublaue Tuch im Kasten auf der Werkbank. Ein Faden, der zwei Zeiten nähte.
Er zeigte es Alwin. Der Alte drehte den Stoff zwischen den Fingerspitzen. Dann steckte er ihn in die Brusttasche, als wolle er den Faden wärmen.
Iska setzte sich wieder in Bewegung. Sie nahm die Schneise, die im Sommer kaum zu erkennen war. Jetzt, im späten Oktober, lagen nur noch die Knoten der Brombeerranken wie bleiche Hände über dem Boden. Sie sprang leise darüber, blieb wieder stehen, spähte, und ging weiter.
Der Hohlweg senkte sich zu einer Mulde, in der das Wasser manchmal stand und manchmal verschwand. Am Rand lag ein Balken, verwittert, halb von Sand geschluckt. Raban strich mit der Schuhspitze darüber und fühlte eine Kerbe. Zwei Linien, die sich berührten, nicht sauber, sondern tastend. Es war das Zeichen von der Messingplatte. Dasselbe Zittern, dieselbe Eile.
Hier, sagte Alwin nur. Er setzte sich neben den Balken auf die Fersen. Er legte die flache Hand auf das Holz und ließ sie dort, als könne das Holz noch Antwort geben. Dann sah er Raban an. Hol die kleine Schaufel aus der Scheune, sagte er. Nicht die große. Die kleine, die hinter dem Milchkarren steckt.
Raban lief. Der Hof war plötzlich weit. Er spürte, wie das Dunkel unter den Pappeln dichter wurde, ohne dass es schon Nacht war. In der Scheune roch es nach der offenen Kiste, nach Papier und Staub. Er griff nach der Schaufel, lag eine Sekunde mit dem Blick am Kasten, der auf dem Werkbrett wartete, und kehrte zurück.
Als er wieder am Hohlweg war, hatte Alwin mit den Händen die oberste Sandschicht gelöst. Er arbeitete langsam, ohne Hast, als wüsste er, wo die Grenze verläuft, hinter der etwas kaputtgeht. Raban kniete sich dazu. Iska lag schräg vor ihnen, den Kopf auf den Pfoten, die Augen wach.
Der Sand gab nach. Nicht viel. Eine Kante wurde sichtbar. Holz, dunkler, dichter, vielleicht Eiche, vielleicht ein anderes schweres Holz. Ein weiterer Eisenring schimmerte. Nicht groß. Eher ein Griff. Eine Spinnwebe klebte daran, grau wie Atem an einem Winterfenster.
Zu zweit hoben sie den Deckel an. Er war leichter als der erste. Darunter war keine Tiefe. Nur ein schmaler Raum, der nach kalter Erde roch. Auf der linken Seite lag ein Bündel, das mit Bindfaden umwickelt war. Rechts glänzte etwas Mattes, als ruhe Blattmetall im Sand.
Alwin nahm das Bündel. Seine Finger lösten den Faden, der sofort riss, als hätte er nur noch aus Erinnerung bestanden. Innen lagen zwei Papiere. Die Kanten brüchig, die Stempel verwischt. Der Stempel trug ein Datum. Februar 1947. Die Zahlen standen krumm da und waren dennoch unmissverständlich.
Er blinzelte und hielt die Papiere schräg, damit das Licht der hohen Wolken auf die Zeilen fiel. Lebensmittelkarten, sagte er ohne Stimme. Für Brot. Für etwas Fett. Für das Nötigste. Er steckte sie nicht ein. Er legte sie auf den Deckel, als dürften sie die Erde noch einmal sehen.
Raban hob das Metall. Es war eine Pfeife. Keine aus Silber. Einfaches Messing mit einem winzigen Kerbzeichen am Rand. Das Zeichen war dasselbe wie auf der Platte des Halsbandes und im Holz. Zwei Linien, die sich trafen, als hätten zwei Finger im Finstern nach einander gesucht.
Alwin sah auf das Messing, als rede es ihn mit seinem Vornamen an. Er legte die Pfeife an die Lippe und zögerte. Er drehte sie in der Hand, als überprüfe er die Richtung, obwohl eine Pfeife keine Richtung kennt. Dann hob er sie erneut an.
Vielleicht nicht, sagte Raban leise. Seine eigene Stimme erschreckte ihn, weil sie eine Bitte wurde, bevor er wusste warum.
In demselben Moment fuhr Iska hoch. Ihr Körper wurde schmal, die Ohren hart. Sie sah in den Streifen zwischen den Pappeln, der zum alten Moorgraben führte, und stand so still, als hätte jemand sie in das Bild geschnitten. Dann sprang sie los, ohne Laut.
Raban riss das Halsband an sich und sprang hinterher. Alwin rief, aber der Ruf war nicht bestimmend, sondern schwer. Er setzte den Fuß in den Hohlweg, kam aus dem Gleichgewicht, fing sich, und ging hinterher, schneller als eben, langsamer als er wollte.
Die Spur führte zum Moorgraben. Das Wasser stand niedrig in der Rinne. Der Boden drumherum war trügerisch. Da, wo Gras wuchs, war die Haut der Erde dünn. Raban wusste, dass hier im Sommer die Frösche saßen. Jetzt war nur das Flüstern der Halme.
Iska stand am Rand und blickte hinab. Ihr Körper vibrierte nicht. Sie war ein ruhiger Pfeil, der wartet. Raban trat neben sie, das Halsband in der Hand. Er beugte sich vor, so weit er sich traute. Im dunklen Wasser schimmerte etwas Helles, als läge dort eine Scherbe. Oder ein Knochen. Oder nur ein Stein.
Er machte einen Schritt weiter, um besser zu sehen. Der Boden gab nach, erst einen Finger breit, dann eine Hand. Er zog den Fuß zurück, aber der Sand hielt ihn fest, eine weiche Hand, die nicht losließ. Das Herz sprang ihm in den Hals.
Iska bellte. Ein kurzer Ton, tief, mitten aus dem Bauch. Alwin war hinter ihnen, atmete durch die Zähne und blieb zwei Schritte vom Rand entfernt stehen.
Geh nicht weiter, sagte er heiser. Warte, ich hole den Haken.
Was für einen Haken, wollte Raban fragen, aber seine Stimme war zu hoch, um zu tragen. Er hielt das Halsband fester. Er hatte das Gefühl, dass er ohne dieses Stück Leder in das Dunkel rutschen würde, weil nichts ihn dann mehr verband.
Alwin drehte sich um und ging zum Weidenstumpf zurück, in dessen Mulde früher Werkzeuge gesteckt hatten. Seine Schritte waren gewissenhaft. Er lief nicht. Seine Hast war im Inneren.
Iska sprang plötzlich in den Graben. Nicht tief. Sie setzte die Vorderpfoten auf eine Wurzel, die quer im Wasser lag, und streckte den Hals. Ihr Maul berührte die helle Sache. Sie hob sie an, ließ sie fallen, hob sie wieder an. Ein metallisches Klacken lief über die feuchte Luft.
Raban sinkte einen weiteren Zentimeter. Der Fuß war warm in der Kälte, als hätte die Erde dort einen eigenen Puls. Der zweite Fuß stand sicher. Noch.
Er streckte die Hand nach Iska aus. Nicht um sie zu ziehen. Um sie zu fühlen. Seine Finger berührten ihr nasses Fell. Sie drehte den Kopf und hielt ihm die helle Sache hin.
Es war eine zweite Pfeife. Klein, flach, an einer schmalen Kordel, die längst gerissen war. Am Rand, ganz klein, stand ein Buchstabe. J. Nicht eingeritzt, sondern geschlagen. Das Metall war stumpf, aber die Markierung war klar.
Alwin kam zurück. In seiner Hand lag ein langer Haken, aus einer alten Gabel gebogen. Er hielt ihn wie einen Stock, auf den er sich stützen könnte und den er doch zur Rettung brauchte. Er sah die Pfeife in Rabans Hand, und etwas in seinem Gesicht wurde sehr still.
Das ist seine, sagte er. Seine Kehle machte ein Geräusch, das näher an einem Atemzug war als an einem Wort. Er hob den Haken und streckte ihn Raban hin. Halte dich.
Raban nahm den Haken. Der Boden unter ihm zuckte. Ein Riss ging durch das Gras. Er fühlte, wie der Sand seinen Schuh losließ und gleich darauf wieder festhielt. Er legte das Halsband um sein Handgelenk, als wäre es ein Seil.
Iska stand noch immer auf der Wurzel. Sie blickte jetzt nicht in das Wasser. Sie blickte in den Schilfgürtel jenseits, als sähe sie dort etwas, das nahe ist und doch nicht da. Sie gab keinen Laut von sich. In ihren Augen lag ein Weg.
Halt, sagte Alwin. Nicht bewegen. Ich ziehe dich.
Der erste Zug brachte Raban keinen Schritt voran. Der zweite machte Raum. Der dritte ließ den Boden knistern. Ein Schwall kalter Luft stieg aus der Rinne, als hätte jemand darunter eine Tür geöffnet.
Dann hörten sie es. Nicht laut. Nicht klar. Es war kein Echo und kein Wind. Es klang wie ein kurzer Pfiff, der zu alt war, um in dieser Luft zu sein, und doch genau hierher gehörte.
Alwins Hand erstarrte am Haken. Iskas Ohren stellten sich wie zwei kleine Segel. Raban hielt den Atem an, und der Boden unter seinem Fuß entschied sich. Er gab nach. Er sank. Die kalte Haut der Erde riss auf, und die Dunkelheit darunter nahm ihm für einen Herzschlag die Richtung.
🐾 Teil 3: Die Seiten, die nie gelesen wurden
Der Boden riss auf wie nasser Atem. Rabans rechter Schuh glitt, der linke hielt, dann gab auch er nach. Die Kälte kroch ihm an die Waden, als legte die Erde ihm Finger an.
Alwin stemmte den Haken tiefer. Die Zinken griffen in die Lederschlaufe am Handgelenk. Zieh nicht, sagte er rau. Leg dich flach. Gib dem Boden mehr von dir, nicht weniger.
Raban ließ die Knie nach. Er sank noch einen Finger breit, dann spürte er, wie eine zähe Schicht unter ihm den Druck verteilte. Er atmete durch den offenen Mund, damit die Luft nicht pfeifend weg wollte. Seine Hände griffen nach Grashalmen, die nichts trugen und doch Mut gaben.
Iska stand auf der Wurzel wie eine schmale Brücke. Sie berührte mit der Schnauze sein Handgelenk, genau dort, wo das alte Halsband lag. Dann hob sie den Kopf und blickte Alwin an, als zähle sie still.
Jetzt, sagte Alwin. Nicht hoch, nur vor. Er zog nicht ruckartig. Er gab eine Richtung. Der Haken spannte sich. Der Boden seufzte. Raban rückte einen halben Schuh weit aus der kalten Mulde. Sein Herz klopfte den Takt, den die Kraniche am Himmel teilten.
Noch einmal, sagte Alwin. Ruhig bleiben.
Der zweite Zug öffnete einen schmalen Weg unter ihm. Raban spürte Wurzeln, die den Fuß stützten wie ein grobes Netz. Er schob das Becken heraus, ein Ellbogen fand Halt, der andere glitt. Erde strich ihm an die Rippen. Der dritte Zug brachte den Geruch von nassem Gras in seine Nase, frisch und hart. Dann lag er auf der Seite, keuchend, mit Schlamm an den Hüften, die Hände im steifen Schilf.
Iska sprang aus dem Graben und schüttelte sich. Das Wasser hinge an ihr, als könne es nicht los. Sie legte Rabans Hand eine Sekunde lang zwischen ihre Zähne. Zart, fest, ohne Schmerz. Dann ließ sie los.
Alwin kniete neben ihm und strich ihm eine Schlammschicht vom Hemd. Er sah nicht erschrocken aus. Er sah alt aus und wach. Er nickte ein einziges Mal.
Gut, sagte er. Du hast dem Boden Zeit gegeben. So macht man das hier.
Raban hob die zweite Pfeife an, die Iska aus dem Wasser geholt hatte. Sie war kalt wie eine Münze im Winter, schwerer als sie aussah. Der kleine Buchstabe am Rand war deutlich. J.
Das ist seine, hatte Alwin gesagt. Jetzt legte er die Finger um das Metall und schloss die Hand. Seine Lider wurden einen Moment lang dünn, als wolle er etwas zwischen innen und außen halten.
Er hielt die Pfeife an sein Ohr, als lausche man einer Muschel. Vielleicht hörte er nichts. Vielleicht hörte er das, was nur kommt, wenn man lange genickt hat. Dann steckte er sie in die Manteltasche, in der auch das graublaue Stoffstück lag.
Sie standen auf und gingen langsam zurück. Der Moorgraben blieb still zurück, als hätte er nichts getan. Die Pappeln klapperten mit dem letzten trockenen Laub. Ein Traktor brummte weit hinter dem Feldrain, und irgendwo schlug ein Tor im Dorf.
Im Hof blieb Alwin stehen und sah lange auf den Sand, in dem frische Schritte lagen. Sie waren nicht seine. Sie waren schmaler und flacher. Ein Fahrrad hätte hier nicht so eingedrückt. Ein Mensch, der leicht ging und wusste, wo der Boden nachgibt. Er trat die Spur mit einem einmaligen, sanften Ruck weg. Nicht um etwas zu verbergen. Um das Dorf in Ruhe zu lassen.
In der Scheune roch es wieder nach Papier und nach dem Staub vergangener Arbeit. Der Kasten lag noch auf der Werkbank, als hätte niemand ihn gesehen, nur die Zeit. Die Lampe brannte ruhig. Raban setzte das Halsband daneben. Die Messingplatte fing das grüne Licht und hielt es.
Alwin hob das Tuch wieder an. Darunter lag eine kleine Blechdose, flach, an einer Seite eingedellt, als hätte jemand sie vor sehr langer Zeit mit der Faust in die Tasche gedrückt. Daneben lag ein Bündel Zettel mit einer groben Schnur. Unter dem Papier blitzte rundes Metall.
Raban nahm das Runde vorsichtig in die Finger. Es war ein Hundesteuerzeichen, schildförmig, matt. Ein Jahr war eingeprägt. 1946. Darunter stand in winzigen Lettern: Amt Gerswalde. Eine Nummer, tief geschlagen, ohne Zierrat.
Alwin atmete einmal scharf ein. Er nahm das Schild und hielt es gegen die Messingplatte des Halsbandes. Es passte, als gehörten die beiden Metalle in dieselbe Hand.
Das trug er, sagte er. In jenem Winter. Für die, die zählen wollten, wem was gehört. Er legte das Schild in die Mulde seiner Handfläche, als sei es ein Zahn.
Raban löste die Schnur des Zettelbundes. Die Blätter waren mit Bleistift beschrieben. Die Schrift war gedrückt, als habe jemand bei Kälte geschrieben. Oben stand ein Name. Ernst Teschke. Darunter ein Datum. 15. Februar 1947.
Alwin berührte die Zeile nicht. Er hörte sie. Dann nickte er Raban zu. Lies, sagte er. Langsam.
Raban las die ersten Sätze. Sie erzählten von einer Route über die Heidenstücke, von einem Bohlenweg, der im Sommer trog und im Winter hielt. Sie erzählten von Zeichen im Holz. Zwei Linien. Nicht sauber. Eile. Jasko geht vor, stand da. Er bleibt, wenn ihr gehen müsst. Er findet, wenn ihr nicht wisst. Drei kurze Pfiffe, einer lang. Nicht mehr.
Raban spürte die Pfeife wie eine kleine warme Last in Alwins Tasche, obwohl sie kalt war. Er las weiter. Der Text wurde enger. Er sprach von Rüben im Sand und von einem Sack, der zu schwer war für dünne Schultern. Er sprach von der Schmiede in Schönermark, wo Mehl gegen ein Winterkaninchen getauscht wurde. Er sprach davon, wie die Männer lachten, ohne Freude. Er sprach davon, dass das Lachen weniger wiegte als Hunger.
Ich war nicht allein, stand da. Rochus ging mit. Er hatte die Hände seines Vaters, groß und verlässlich. Nimm die Bohlen, sagte ich. Er nickte. Jasko stand zwischen uns und sah mir in die Brust. Dann pfiff ich drei kurze, einen lang. Und wir gingen.
Raban sah nicht auf. Er spürte Alwins Blick. Er las den nächsten Satz, obwohl er ihn nicht lesen wollte. Der Bohlenweg war alt, stand da. Das Eis trug mich. Es trug ihn nicht. Jasko sprang. Er lag neben ihm und hielt ihn mit Zähnen an der Jacke, bis die Zähne kalt wurden. Ich hörte den Pfiff in meinem eigenen Kopf und er war zu spät.
Es wurde still in der Scheune. Nicht die Stille, die weh tut. Die Stille, die Platz macht für das, was schwer ist. Iska lag auf dem Bretterboden und hatte die Pfoten über Kreuz gelegt. Sie sah zur Werkbank, nicht zum Fenster.
Alwin legte die Hand auf den Rand der Bank. Seine Finger klopften einmal, ohne dass er es merkte. Rochus Mahnke, sagte er leise. Er war siebzehn. Ich war fünfzehn. Er sah mich an, als könne ich Wasser in Holz verwandeln. Ich konnte es nicht.
Raban senkte den Blick auf die Blechdose. Er hob den Deckel. Drinnen lag etwas, das nach Torf roch. Ein Stoffstreifen, eingerollt und mit einem dünnen Draht gesteckt. In den Stoff waren kleine Körner genäht. Weizen, trocken, fest wie Stein. Jemand hatte im Winter das Saatgut am Körper getragen, damit es nicht gezählt wurde. Zwischen den Nähten steckte ein schmaler Streifen Papier.
Raban zog ihn vorsichtig heraus. Ein Satz. Nicht mehr. Für den, der pfeift wie damals. Öffne nicht am Wasser. Öffne dort, wo das Holz atmen kann.
Alwin nickte. Sein Kiefer arbeitete, als wolle er ein Wort weich kauen. Er nahm den Stoff, wog ihn, als sei er noch voller Versprechen. Dann griff er in den Kasten zurück und holte ein kleines Paket hervor, das sie zuvor übersehen hatten. Es war mit Packpapier umwickelt. Auf der Lasche stand mit Bleistift ein Name. Alwin.
Er hielt das Paket, als hätte es Gewicht und doch keins. Er sah Raban an und lächelte nicht.
Mein Vater, sagte er. Er hat gewusst, dass es nicht nur um Brot geht.
Er faltete das Papier auf. Darin lag ein Schlüssel. Schwarz vom Öl. Ein Scheunenschlüssel, aber älter, als die Türen hier waren. Er hatte einen runden Bart und eine kleine Kerbe, die wie ein Zacken in Milch aussah. Daneben lag ein Zettel, schmal, mit drei Worten. Tor hinter dem Tor.
Raban legte die Finger um den Schlüssel. Er fühlte kalt und glatt und alt. Er wusste, welche Tür damit nicht aufging. Und hatte keine Ahnung, welche er suchten.
Iska hob den Kopf. Ihre Ohren gingen nach vorn, nicht scharf, eher aufmerksam. Sie stand auf und setzte sich vor die Hintertür der Scheune. Nicht zur Hofseite. Zur Wiese, die von außen an die Wand stieß. Sie sah die Bohle unter dem Fenster an, als sei da etwas, das atmen konnte.
Alwin drehte die Lampe so, dass das Licht auf die Bretter fiel. Man sah, wo einmal eine Türe gewesen war. Der Umriss war grau im Holz, eine alte Narbe. In der Ecke steckte ein rostiger Nagel, der keinen Halt mehr fand. Über dem Umriss war ein Zeichen eingeritzt. Zwei Linien, die sich trafen.
Tor hinter dem Tor, sagte Raban. Er flüsterte, obwohl niemand im Hof stand.
Alwin legte das Ohr an das Holz. Er hielt die Luft an. Raban tat dasselbe ohne zu denken. Die Scheune machte das Geräusch alten Holzes. Aber dahinter war noch etwas. Kein Wind. Kein Tier. Eher ein kurzer, trockener Kontakt. Metall auf Metall. Ein Klirren, das nicht von allein kam.
Iska knurrte leise, tief, als käme der Ton aus dem Boden. Ihr Körper war ruhig. Ihr Blick blieb an der Ecke hängen, wo der Umriss am dunkelsten war.
Alwin hob die Lampe an. Das Licht flackerte ein wenig. Er legte den Schlüssel in Rabans Hand, als gebe er ihm einen Atem, den er vor Jahren verloren hatte. Dann trat er einen Schritt zurück.
Mach du, sagte er.
In diesem Moment schob sich draußen ein Schatten über den Hof. Nicht groß. Nicht schnell. Es war, als stelle sich jemand neben die Scheune und lausche. Die Lampe summte. Das Holz antwortete noch nicht. Und hinter der Wand klickte es ein zweites Mal, so fein, dass der Ton fast erlosch, während er entstand.