🐾 Teil 4: Das Tor hinter dem Tor
Raban hielt den Schlüssel wie einen warmen Stein. Das Klicken hinter der Wand war so fein gewesen, dass es eher eine Erinnerung als ein Geräusch hätte sein können. Die Lampe summte, als halte sie den Atem an.
Iska stand dicht an der Bohle. Ihre Nase berührte das Holz, dann zog sie die Luft so leise ein, dass man nur die Bewegung ihres Halses sah. Ihr Blick blieb an der Ecke, wo der Umriss der alten Tür am dunkelsten war.
Alwin nickte kaum sichtbar. Er sagte nichts. Er legte die Hand an die Wand, als suche er die Stelle, an der Holz Antwort gibt. Sie war da, ein kleiner Widerstand unter den Fingerkuppen, eine Unebenheit, die nicht zufällig war.
Raban führte den Schlüssel dorthin. Das Metall fand eine verdeckte Führung. Er drehte langsam. Ein kurzer Ruck, dann ein Nachgeben, das eher ein Seufzer als ein Schloss war. Die Fuge zeichnete sich ab wie eine Narbe, die wieder weich wurde.
Draußen scharrte Sand. Es war kein Schritt, eher das leise Korrigieren eines Standes. Das Hoflicht sprang nicht an. Nur der Wind strich über die Pappeln und brachte die dünnen Blätter zum Flüstern.
Alwin drehte die Lampe niedriger. Das Licht wurde stiller. Er legte zwei Finger an das Holz und zog. Die verborgene Tür kam einen Finger breit vor. Kalte Luft strich hindurch. Sie roch nach feuchtem Stroh und alter Leinwand.
Iska rückte einen halben Schritt zurück und gab den Weg frei. Raban fasste die Kante. Die Tür schwenkte schwer in den Raum. Dahinter lag ein schmaler Gang, nicht höher als eine Mannslänge, nicht breiter als zwei Schultern. An der linken Wand war eine Holzleiste, glatt von Händen, die sie oft berührt hatten.
Sie traten nacheinander hinein. Die Lampe warf ein milchiges Oval an die Bretter. Staub hing in der Luft, aber er war kein Feind. Er war das, was bleibt, wenn Dinge lange warten.
Iska ging vor. Ihre Pfoten setzten leise auf. Sie blieb an einer Stelle stehen, wo der Boden dunkler war. Raban kniete hin und tastete. Eine lose Diele gab einen Spalt frei. Darunter lag etwas Leinen, fest umwickelt, hart geworden von Jahren.
Alwin reichte die Lampe näher. Raban hob das Paket heraus. Das Leinen war an den Kanten glatt, als hätten es viele Winterhände gerieben. Ein dünner Draht hielt es zusammen. Er gab nach, als Raban ihn löste.
Darinnen lag ein Heft. Schmale Linien, fester Karton, die Ecken rund. Auf der ersten Seite stand mit Bleistift in gedrückten Buchstaben: Ernst Teschke. Wegzeichen. Darunter ein Datum. Dezember 1946.
Alwin hielt das Heft nicht sofort. Er sah es an wie etwas, das man anfasst, wenn man bereit ist, die Hand nicht zurückzuziehen. Dann nahm er es und blätterte. Die Seiten rochen nach Stube und Frost. Skizzen von Hecken, kleine Kreuze an Feldsteinen, kurze Sätze. Drei kurze, einer lang. Nicht nachts an der Brücke. Warte, bis der Wind dreht.
Weiter hinten steckte ein gefalteter Zettel. Die Schrift war schmaler. Raban erkannte den Namen im ersten Satz, bevor er ihn ganz gelesen hatte. Hilla Mahnke. Ein Brief, der nie abgeschickt worden war. Mein Junge hat im Eis gelegen, stand dort. Ich habe seine Jacke gehalten, als hielte ich ihm die Zeit. Jasko hat ihn gesucht, bis das Holz brach.
Alwins Gesicht wurde still. Keine Linie zu viel, keine zu wenig. Er legte den Brief nicht zurück. Er drehte ihn und steckte ihn in die Brusttasche, als müsse er ihn dorthin legen, wo er schon immer gelegen hatte.
Von draußen kam das leise Klirren wieder. Metall auf Metall, zwei kurze Kontakte, als probiere jemand einen Haken, der seit Jahren nicht bewegt worden war. Iska hob den Kopf und stellte die Ohren nach vorn. Sie knurrte nicht. Sie stand nur genauer.
Alwin blickte Raban an. Seine Stimme war klein und klar. Wir löschen die Lampe. Er drehte den Regler, bis das Glas fast dunkel war. Ein Restglimmen blieb, genug, um die Umrisse zu halten.
Im Halbdunkel wurde der Gang länger. Am Ende tauchte eine zweite Kante auf. Holz, größer, schwerer. Eine alte Außentür, nach innen verriegelt. Auf der Höhe des Schlosses war das Zeichen eingeritzt. Zwei Linien, die sich trafen.
Alwin legte die Hand auf den Riegel. Er fühlte kalt und rau. Er blieb einen Atemzug lang stehen. Dann schob er den Riegel ein Stück zur Seite. Er ging nicht weit. Er ging so weit, wie er es immer getan hatte, wenn draußen jemand wartete, dem man noch nicht den ganzen Hof anvertrauen konnte.
Das Geräusch draußen verstummte. Ein Satz Sand rutschte nach. Jemand stand jetzt sehr still. Es roch kurz nach kaltem Tabak. Danach roch es wieder nach Garten im Herbst.
Raban hörte sein Herz in den Ohren. Er fühlte den Schlüssel in der Hand, obwohl er ihn längst in die Tasche gesteckt hatte. Er trat neben Iska und spürte ihre Schulter am Knie. Es war ein beruhigendes Gewicht, das wach machte.
Alwin nahm das Heft noch einmal auf. Er blätterte zu einer Seite, die viele Finger gesehen haben musste. Die Kanten waren weicher als die anderen. Oben stand eine Jahreszahl. 1947. Darunter ein Satz. Wenn der Schnee die Schritte frisst, leg den Sack auf die Bohle, nie in den Sand. Pfeif dreimal kurz. Er wartet hinter dem Tor.
Er sah Raban an. Seine Stimme war tiefer. Jasko war vier Winter alt, als er uns führte. Nicht wild, nicht zahm. Nur genau. Er trug nichts außer Luft und einen Auftrag, den niemand ihm gegeben und den er doch angenommen hatte.
Raban dachte an den Pfiff am Moorgraben, an das leise Echo, das eher ein Gefühl gewesen war. Er legte die Hand auf das alte Halsband, das er in der Jacke trug. Das Leder war kalt, aber nicht tot.
Hinter der Außentür scharrte es wieder. Dieses Mal war es kein Probieren. Es war ein einziges, zögerndes Klopfen, als frage jemand, ob noch jemand lebe. Alwin hob den Kopf. Er legte den Finger an die Lippen. Er wartete einen Herzschlag. Dann einen zweiten.
Er schob den Riegel noch ein Stück. Die Tür blieb zu. Er legte die Stirn kurz an das Holz. Danach drehte er sich zu Raban. Wir gehen zurück an die Werkbank. Wenn einer reden will, soll er an der Hofseite sprechen. Nicht hier.
Sie verließen den Gang. Raban schob die verborgene Tür zu, bis sie wieder eine Wand war. Das Schloss schnappte nicht laut. Es setzte sich an seinen Platz zurück. Die Lampe bekam wieder Licht. Das Grün auf dem Schirm machte den Raum ruhig.
Auf der Werkbank lag das Hundesteuerzeichen neben der Pfeife. Das Metall war stumpf geworden und schien doch zu atmen. Iska lag unter der Bank. Ihre Augen waren offen. Sie tat so, als schliefe sie.
Der Hof blieb still. Dann knarrte das alte Tor, das zum Sandweg führte. Es war ein Geräusch, das im Dorf jeder kannte. Eine Stimme folgte, nicht laut. Alwin. Ein einziges Wort, das in den Holzbalken hängen blieb.
Alwin ging zur Tür. Er legte die Hand an den Rahmen, wie vorhin. Er öffnete einen Spalt. In der Dämmerung stand ein Mann, schmal, mit einem grauen Mantel, der an den Schultern zu groß war. Sein Fahrrad lehnte an der Pappel. Er hielt die Mütze in der Hand.
Guten Abend, sagte er. Sein Blick fiel kurz in die Scheune, blieb an Raban hängen und ging dann zu Alwin zurück. Ich störe ungern. Mein Name ist Immo Kargel. Ich bin wegen einer Frage hier, die alt geworden ist.
Alwin sah ihn lange an. Kein Erkennen zeigte sich, aber ein Abwägen. Er trat nicht ganz zur Seite. Er ließ Raum und hielt ihn doch. Raban spürte, wie die Wörter in der Luft schwer wurden, bevor sie gesprochen waren.
Immo senkte die Mütze. Meine Mutter hat früher bei Hilla Mahnke in der Küche geholfen. Sie hat dort einmal einen Brief gesehen, der nie zur Post gegangen ist. Er sagte das ohne Forderung. Eher wie jemand, der seit Jahren an derselben Stelle leise anklopft.
Alwins Finger bewegten sich am Türholz. Er drehte sich nicht um. Raban sah die Brusttasche, in der der gefaltete Brief steckte. Der Stoff stand dort eine Spur ab.
Iska hob den Kopf und stand auf. Sie trat an Alwins Seite, legte den Kopf knapp unter dessen Hand und sah durch den Spalt hinaus. Ihr Körper wurde ruhig und schwer, als hätte sie eine Entscheidung getroffen, die Menschen erst später begreifen.
Immo hob die Hand mit der Mütze ein wenig. Es gibt am Moor eine Stelle, sagte er, an der der Boden manchmal singt. Meine Mutter hat dort immer den Hund gehört, auch als keiner mehr rief. Ich möchte wissen, ob ich den Brief lesen darf. Nur den einen Satz, der uns fehlt.
Alwin schloss kurz die Augen. Als er sie öffnete, lag eine Müdigkeit darin, die nicht von heute war. Er nickte langsam. Nicht hier vor der Tür, sagte er. Drinnen. Und nicht allein für Sie.
Er trat zur Seite. Immo ging nicht gleich. Er sah an Iska vorbei in den Scheunenraum, als suche er einen Stuhl, der ihm früher gehört hatte. Dann trat er ein. Die Lampe zeichnete sein Gesicht weich und alt.
Alwin legte den Brief auf die Werkbank. Er glättete ihn mit zwei Fingern. Er sprach den Namen von Hilla Mahnke so aus, als würde er ihn zum ersten Mal nicht flüsternd sagen. Immo stand daneben und hielt die Mütze wie etwas, das man fallen lassen könnte, wenn man wüsste, wo man es wiederfindet.
Raban las nicht. Er sah auf die zweite Pfeife mit dem kleinen Buchstaben. Er hörte den Hof atmen. In diesem Atem lag etwas, das ihnen allen gleichzeitig näher kam.
Draußen raschelte der Pappelstreifen. Nicht vom Wind. Vom Aufstehen eines Vogels. Das war nichts Bedrohliches. Es war nur die Bewegung eines Abends, der die Dinge an ihren Platz schob.
Alwin hob den Blick. Dann legte er den Zeigefinger an die erste Zeile. Bevor er zu lesen begann, geschah es noch einmal. Das leise Klicken, das sie schon gehört hatten. Diesmal klang es nicht wie ein Probieren. Es klang wie das Öffnen einer fremden Hand am Riegel hinter dem verborgenen Tor.