🐾 Teil 6: Die Jacke aus dem Wasser
Der Morgennebel hing schwer über dem Graben, als hätte sich die Nacht geweigert, ganz zu gehen. Raban spürte die Nässe durch seine Jacke kriechen. Alwin kniete im feuchten Gras und hielt die Eisenschatulle in den Händen. Das Schloss war dunkel, fast schwarz, als hätte es die Jahre gefressen.
Immo stand ein Stück abseits, die Mütze noch immer in den Händen. Sein Blick lag auf der Schatulle, doch die Lider zuckten, als ob er Angst hätte, dass das, was darin ruhte, mehr verletzen könnte als helfen. Raban hörte seinen Atem stoßweise gehen.
Iska scharrte am Rand des Grabens. Sie war nicht unruhig, nur wachsam. Ihre Schultern zitterten unter dem nassen Fell. Ab und zu hob sie die Schnauze und schnappte nach dem Nebel, als wollte sie ihn zerreißen.
Alwin sah auf den Schlüssel in Rabans Hand. Gib her, sagte er leise. Raban zögerte. Die kalte Schwere des Metalls drückte in seine Haut wie eine Frage, die man nicht beantworten wollte. Schließlich legte er ihn in die Hand des Großvaters.
Der alte Mann setzte die Spitze ins Schloss. Ein Knacken, dann ein Widerstand. Er atmete einmal tief ein, hielt den Atem, drückte fester. Ein zweites Knacken. Der Riegel gab nach. Die Schatulle öffnete sich langsam, als wolle sie selbst entscheiden, wie viel sie preisgibt.
Drinnen lagen nur wenige Dinge. Ein Stück Brot, schwarz wie Erde, hart wie Stein. Ein verblichenes Foto, eingerollt und mit einer Schnur zusammengehalten. Und ein Stück Leder, dünn und brüchig, das aussah, als wäre es einmal ein Teil eines größeren Ganzen gewesen.
Alwin nahm das Foto zuerst. Seine Hände zitterten stärker, als er es entrollte. Darauf sah man drei Gestalten im Schnee. Zwei Jungen, noch fast Kinder, und zwischen ihnen ein Hund. Dunkles Fell, helle Brust, die Ohren hoch. Raban sog die Luft ein. Der Name auf dem Halsband bekam ein Gesicht.
Das war er, sagte Alwin. Jasko. Und der andere, das ist dein Onkel. Ernst.
Die Worte fielen schwer, aber sie blieben im Raum wie Steine. Raban hatte noch nie von diesem Onkel gehört. Die Familie war klein, die Geschichten kurz, und jetzt lag eine neue vor ihm, die nicht passte und doch passte.
Immo trat näher. Er griff nach dem Foto, hielt es vorsichtig, als könne es zerspringen. Mein Vater erzählte von diesem Hund, sagte er. Er sagte, ohne ihn wären sie nicht zurückgekommen. Aber ich habe nie geglaubt, dass er wirklich existierte.
Iska setzte sich neben ihn. Sie sah nicht auf, sie sah geradeaus, als hätte sie eine Spur, die noch niemand kannte.
Alwin schlug die Augen nieder. Ernst war leichter, sagte er. Er sollte den Sack tragen. Ich habe gepfiffen, und Jasko ist gesprungen. Wir wollten beide zurück ins Dorf. Nur einer kam an.
Die Worte waren so schwer, dass sie den Staub an die Dielen banden. Raban sah seinen Großvater an und wusste nicht, ob er fragen durfte. Aber die Frage lag längst im Raum. Warum hast du nie erzählt, dass du einen Bruder hattest.
Alwin antwortete nicht sofort. Er strich über den Rand des Fotos. Sein Finger fuhr über das Gesicht des Jungen, das kaum noch Linien hatte, nur Schatten und Licht. Ich habe geschwiegen, sagte er. Weil ich nicht wusste, wie man erzählt, dass einer gegangen ist, weil man selbst nicht genug Kraft hatte.
Immo ließ den Blick nicht los. Mein Großvater hat euch gesucht, sagte er leise. Er hat gesagt, er habe Spuren im Schnee gesehen, bis zum Wasser. Und dann nichts mehr. Nur den Hund, der gebellt hat, als wollte er die Stille füllen.
Raban hörte Iska wieder knurren, ganz tief, ohne Laut, nur ein Zittern. Sie drängte sich näher an ihn, ihre Pfote schwer auf seinem Fuß. Er hielt das alte Halsband in der Hand. Die Kerbe im Messing schnitt sich in seine Haut.
Plötzlich knackte es draußen im Hof. Nicht wie Holz. Eher wie ein Schritt auf nassem Kies. Alle drei erstarrten. Die Lampe flackerte. Ein Schatten glitt über die Ritzen der Scheunentür.
Alwin stellte die Schatulle zurück, langsam, als wolle er das Metall beruhigen. Dann ging er zur Tür, öffnete sie einen Spalt und sah hinaus. Nichts war da. Nur der Wind, der das trockene Gras bewegte.
Doch in der Ferne, am Rand der Pappeln, stand jemand. Eine Gestalt, unbewegt, zu weit, um das Gesicht zu erkennen. Der Nebel verschluckte die Konturen, ließ nur eine dunkle Linie zurück.
Alwin ließ die Tür halb offen. Seine Stimme war brüchig. Er ist es nicht. Aber er trägt denselben Schritt.
Raban wollte fragen, was das bedeute. Doch er konnte nicht. Etwas in der Brust hielt ihn still.
Iska stieß einen Laut aus, der nicht wie ein Bellen klang. Mehr wie ein Rufen. Kurz. Rau. Dreimal kurz, einer lang. Genau wie in den Zeilen des Heftes.
Die Gestalt blieb stehen. Der Nebel verschluckte sie. Nur die Pappeln blieben, still, dunkel, schwer.
Alwin ließ die Tür ins Schloss fallen. Sein Atem war hörbar. Er sah Raban an. Morgen, sagte er. Am Tag. Wir werden sehen, was wir tragen können.
Die Lampe brannte wieder hell. Das Foto lag auf dem Tisch, das Brot daneben, die Pfeife daneben, das Halsband auf der Werkbank. Vier Dinge, die nicht zusammengehörten und doch denselben Raum füllten.
Raban setzte sich auf den Boden. Iska legte den Kopf auf seine Knie. Ihre Augen waren wach und dunkel. Er streichelte sie über das zerzauste Fell, das nach nassem Holz roch.
Er sah zu seinem Großvater, der den Blick auf die Schatulle gesenkt hielt, als könne er den nächsten Satz schon lesen.
Draußen war es nun ganz still. Nur die Kraniche riefen, hoch oben, als wüssten sie, dass unten eine Geschichte wieder aufbrechen wollte.
Alwin öffnete den Mund, als wolle er zu sprechen beginnen. Seine Stimme kam nicht. Nur ein Atem, schwer und leise, füllte den Raum.
Raban hielt das Halsband fester, und in der Stille hörte er es wieder. Den Pfiff. Dreimal kurz. Einer lang.
Und er wusste, dass der nächste Schritt nicht mehr aufzuhalten war.