Das verlorene Halsband | Zwischen Kriegserbe und neuer Hoffnung: Wie ein Hundehalsband Generationen über Zeit und Schmerz verbindet

🐾 Teil 7: Das Geständnis an der Holzbrücke

Der nächste Morgen brach still an. Nebel lag über den Feldern, als hätte die Nacht noch nicht entschieden, ob sie bleiben wollte. Raban trat aus der Scheune, das Halsband in der Hand. Es fühlte sich schwerer an als sonst, als hätte es im Dunkel der Nacht etwas aufgenommen.

Iska war bereits wach. Sie hatte nicht geschlafen, nur geruht, die Augen halb geschlossen, immer wieder auf den Hof horchend. Nun lief sie neben Raban her, ohne Eile, aber mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel ließ.

Alwin stand am Brunnen. Er schöpfte Wasser in die Hände, benetzte das Gesicht und richtete sich auf. Sein Blick war müde und zugleich gespannt. Er hatte kaum geschlafen, das sah man an den Schatten unter seinen Augen. Doch in seiner Haltung lag ein Entschluss.

Immo Kargel kam von der Straße. Er hatte sein Fahrrad geschoben, das Rad war noch feucht vom Tau. Er grüßte nicht, sondern blieb einfach stehen, als wolle er nicht mehr hinauszögern, was längst begonnen hatte. Seine Augen lagen auf der Schatulle, die Alwin im Arm trug.

Sie gingen gemeinsam los, schweigend, den Sandweg hinunter, vorbei an den Pappeln, die noch Tropfen hielten. Die Luft war kühl, aber klarer als am Abend zuvor. Jeder Schritt klang deutlicher, als hätte der Boden beschlossen, nichts zu verschlucken.

Der Weg führte zum Brückenjoch. Das Wasser war heute stiller, fast schwarz, und die fehlende Bohle wirkte wie ein Loch im Atem des Flusses. Alwin legte die Schatulle auf den Rand, neben das alte Holz.

Iska stellte sich daneben. Sie beugte sich vor, schnupperte, dann drehte sie den Kopf zu Raban, als wollte sie bestätigen, dass dies der richtige Ort war.

Alwin kniete nieder. Seine Hände öffneten die Schatulle erneut. Das Foto lag obenauf, daneben das Brot, das Lederstück und der kleine Brief. Er nahm sie nicht heraus. Er sah sie nur an, als lese er ein altes Gebet.

Dann sprach er, leise, fast an den Fluss gerichtet. Ernst hat hier gelegen. Ich habe ihn nicht halten können. Jasko hat es versucht, länger als ich. Er blieb, bis das Eis brach.

Die Worte hingen über dem Wasser, schwer und klar. Immo senkte den Kopf, als wolle er den Namen still aufnehmen. Raban legte eine Hand auf das Halsband. Es war kalt, aber es vibrierte fast, als hätte es die Stimmen aufgenommen.

Plötzlich bellte Iska. Kurz, scharf, dann noch einmal. Sie sprang auf die fehlende Bohle, balancierte, als hätte sie keine Angst vor dem Abgrund. Ihre Schnauze wies nach unten, dorthin, wo die Dunkelheit des Wassers dichter war.

Raban beugte sich vor. Unter der Oberfläche schimmerte etwas. Nicht Metall, nicht Stein. Es war ein Stück Stoff, dunkel, aber mit einem hellen Faden, der im Wasser wie eine Linie glitzerte.

Alwin griff nach dem Haken, den er mitgebracht hatte. Vorsichtig ließ er ihn ins Wasser, hakte den Stoff und zog ihn herauf. Tropfen liefen an dem Tuch herab, das schwer und zerfressen war. Doch es hielt.

Sie breiteten es am Ufer aus. Es war eine Jacke. Alt, zerrissen, die Knöpfe verrostet. In der Innentasche steckte ein Stück Papier, feucht, aber lesbar. Alwin zog es heraus. Seine Finger zitterten.

Die Schrift war schwach, aber noch da. Es war ein Brief. Nur wenige Worte. An Mutter. Ich komme später. Warte. E.

Stille. Niemand sprach. Nur der Fluss rauschte leise, als wolle er das letzte Wort behalten.

Alwin schloss die Augen. Er legte den Brief zurück in die Jacke, faltete sie und legte die Hand darauf. Dann hob er sie, reichte sie Immo. Dein Haus war das nächste nach unserem. Es war auch dein Verlust.

Immo nahm die Jacke, hielt sie, als hätte sie ein Gewicht, das größer war als sein eigener Körper. Seine Augen waren feucht, aber er blinzelte nicht. Er nickte nur, einmal, fest.

Raban sah auf das Halsband. Er stellte sich vor, wie Jasko in jener Nacht am Rand gestanden hatte, mit den Zähnen an der Jacke, bellend, kämpfend, und doch verloren. Er spürte einen Druck in der Brust, der nicht Schmerz war, sondern etwas, das bleiben wollte.

Iska legte sich neben ihn. Sie drückte ihre Schnauze gegen das Halsband und schloss die Augen. Einen Moment lang schien es, als hörte man tatsächlich den alten Pfiff. Dreimal kurz, einer lang.

Da hob Alwin den Kopf. Seine Stimme war brüchig, aber fest. Wir tragen ihn heim. Nicht den Körper. Aber das, was geblieben ist.

Sie gingen langsam zurück, die Jacke in Immos Armen, die Schatulle bei Alwin, das Halsband bei Raban. Kein Wort fiel, und doch war jeder Schritt voller Stimmen.

Im Dorf standen die Häuser still. Niemand fragte, niemand sah hinaus. Es war, als wüssten die Mauern längst, was zurückkehrte.

Im Hof stellte Alwin die Schatulle wieder auf die Werkbank. Er legte das Foto daneben. Dann wandte er sich an Raban. Bewahr es auf. Nicht, weil es schön ist. Sondern weil es nicht verschwinden darf.

Raban nickte. Seine Finger umschlossen das Halsband. Es war nicht leichter geworden. Aber es lag nun fester in seiner Hand, als gehöre es dorthin.

Die Lampe flackerte, als sie sie anzündeten. Ein Schatten huschte über die Wand, kurz, fast wie ein Hund, der an der Tür wartete.

Und in diesem Moment, zwischen Licht und Dunkel, war es, als säßen sie nicht zu dritt, sondern zu viert in der Scheune. Ein Hund, der nicht ging, solange seine Aufgabe noch nicht erfüllt war.

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