Das verlorene Halsband | Zwischen Kriegserbe und neuer Hoffnung: Wie ein Hundehalsband Generationen über Zeit und Schmerz verbindet

🐾 Teil 8: Der Ring unter dem verbrannten Baum

Die Nacht nach der Rückkehr der Jacke war schwerer als die Nächte zuvor. Kein Wind rührte sich, und doch schien der Hof zu lauschen. Raban lag im Bett unter dem Dachboden, das Halsband neben sich. Er konnte die Augen nicht schließen. Immer wieder hörte er in der Ferne das Bellen der Hunde der Nachbarn, abgehackt, unruhig. Dazwischen das eigene Herz, das im Dunkel zu laut schlug.

Unten in der Stube knarrte ein Stuhl. Alwin war wach geblieben. Manchmal hörte man seine Schritte, dann wieder lange Stille. Auch Immo, der für die Nacht geblieben war, wälzte sich auf dem Sofa, als könne er keinen Platz finden. Nur Iska schlief ruhig, eingerollt, das Fell noch feucht vom Abend, die Nase zwischen den Pfoten.

Als die ersten grauen Streifen über den Horizont zogen, war Raban schon auf den Beinen. Er trat in die Scheune, wo die Schatulle und das Foto noch auf der Werkbank lagen. Der Atem des Morgens hing kalt in der Luft. Einmal dachte er, ein Schatten sei neben ihm, ein leises Tappen, doch es war nur der eigene Schritt.

Alwin kam kurz darauf herein, die Pfeife in der Hand. Nicht die eigene, sondern die alte mit dem kleinen J. Er legte sie auf den Tisch, neben das Halsband. Sein Blick war leer und voll zugleich. Wir können nicht hier bleiben, sagte er. Wenn etwas verborgen ist, dann nicht in diesen Wänden.

Immo trat hinzu, zog die Jacke enger um die Schultern. Er sah müde aus, aber entschlossen. Meine Mutter sprach von einem Ort hinter dem Feldrain, sagte er. Ein Baum, halb verbrannt, der aber nie ganz fiel. Dort, meinte sie, hätte Hilla immer Blumen niedergelegt.

Alwin nickte langsam. Ich kenne den Baum. Er ist älter als wir alle. Vielleicht ist es dort.

Sie machten sich auf den Weg. Iska ging voraus, sicher, fast wie auf einem Pfad, den sie schon kannte. Ihr Schweif bewegte sich kaum. Der Nebel lag noch dicht, schluckte Geräusche, so dass ihre Schritte wie in Watte fielen.

Der Baum stand einsam am Rand einer kleinen Anhöhe. Die Hälfte des Stammes war schwarz und gespalten, doch aus der anderen Hälfte wuchs noch Leben, ein dünner Arm mit wenigen Blättern. Um den Fuß lagen trockene Blumen, längst zerfallen.

Iska blieb stehen. Sie setzte sich, starrte den Baum an, ohne sich zu rühren.

Alwin legte die Hand auf den Stamm. Seine Finger glitten über die verbrannte Rinde. Hier war ich zuletzt, sagte er. Mit deinem Onkel. Wir haben gewartet, dass die Nacht vorüberging. Ich hörte sein Lachen, leise, dünn. Dann hörte ich nur noch das Eis.

Raban kniete nieder. Er suchte den Boden ab. Zwischen den Wurzeln war eine Vertiefung. Feucht, mit Laub bedeckt. Seine Finger stießen auf etwas Hartes. Er zog es hervor: ein kleiner Holzkasten, kaum größer als eine Faust. Das Holz war aufgequollen, aber hielt.

Er öffnete ihn vorsichtig. Drinnen lag ein Ring, schlicht, aus Eisen, die Innenseite mit zwei Buchstaben eingeritzt. E und H. Ernst und Hilla.

Immo hielt den Atem an. Seine Hand griff nach dem Ring, aber er zog sie sofort wieder zurück, als fürchte er, etwas Ungehöriges zu tun.

Alwin nahm ihn auf, drehte ihn im Licht. Sein Blick war fern. Er hat ihn wohl für sie gemacht, sagte er. Ein Versprechen, das er nicht mehr halten konnte.

Stille breitete sich aus. Nur das ferne Krächzen eines Raben war zu hören. Raban spürte die Last des Augenblicks. Alles, was verborgen gewesen war, kam jetzt ans Licht, klein und zerbrechlich und doch voller Gewicht.

Da hob Iska plötzlich den Kopf. Ihre Ohren stellten sich, ihr Körper spannte sich. Ein Geräusch kam den Hang herauf, gleichmäßig, schwer. Schritte im Nebel.

Die drei standen still. Aus der weißen Wand löste sich eine Gestalt. Breit gebaut, mit einem Stock, der bei jedem Schritt in die Erde fuhr. Das Gesicht war von Falten gezeichnet, die Augen tief.

Der Mann blieb vor ihnen stehen, musterte sie nacheinander. Sein Blick blieb an der Schatulle hängen, dann an dem Ring. Schließlich sah er auf Iska, die ihn nicht anbellte, sondern schweigend musterte.

Ich bin Friedrich Mahnke, sagte er. Der Bruder von Rochus.

Alwin wich einen Schritt zurück. Seine Lippen formten den Namen, ohne dass er ihn laut aussprach.

Friedrich sah den Ring in seiner Hand. Lange Zeit habe ich gedacht, ihr hättet alles verschwinden lassen. Doch es war nie fort. Es hat nur gewartet.

Seine Stimme klang nicht anklagend, eher wie jemand, der nach vielen Jahren eine Last ablegt.

Immo trat vor, hielt ihm die Jacke hin, die sie aus dem Wasser geborgen hatten. Das ist das Einzige, was blieb, sagte er leise.

Friedrich nahm sie entgegen. Seine Hände zitterten, aber er ließ sie nicht fallen. Er roch an dem Stoff, als könne er den Bruder darin wiederfinden. Dann schloss er die Augen.

Alwin legte ihm den Ring in die andere Hand. Ernst und Hilla, sagte er. Er wollte, dass es nicht endet.

Friedrichs Gesicht brach auf, als hätte er es nicht mehr halten können. Er sank auf die Knie, die Jacke und den Ring an die Brust gedrückt. Seine Schultern bebten, und doch war es keine Anklage. Es war ein Weinen, das Platz machte.

Raban stand da, das Halsband in den Händen. Er sah auf Iska, die still neben Friedrich saß, den Kopf gesenkt, als würde sie wachen.

Die Sonne brach durch den Nebel, ein einzelner Strahl fiel auf den verbrannten Stamm. Für einen Augenblick schien er wieder ganz, als hätte die Zeit ihn zurückgegeben.

Alwin legte die Hand auf Rabans Schulter. Jetzt, sagte er, beginnt das Erzählen. Nicht um Schuld zu suchen. Sondern damit nichts mehr schweigt.

Raban nickte. Er wusste, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. Aber sie hatte einen neuen Atem gefunden.

Und als Iska die Schnauze hob und in die Ferne bellte, klang es nicht wie Warnung, sondern wie ein Ruf, dass endlich etwas gefunden worden war.

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