🐾 Teil 9: Die Erinnerung, die zurückkehrt
Friedrich Mahnke kniete noch immer am Fuße des verbrannten Stammes. Die Jacke seines Bruders hing schwer in seinen Händen, der Ring drückte sich in seine Haut. Er schloss die Augen, und seine Schultern bebten, als müsse er alles loslassen, was sich über Jahrzehnte in ihm gestaut hatte.
Niemand wagte, ihn zu stören. Raban stand reglos, das Halsband gegen die Brust gedrückt. Alwin sah auf den Boden, als müsse er sich erst sammeln, um den Blick heben zu können. Nur Iska bewegte sich. Sie ging langsam zu Friedrich, setzte sich neben ihn und legte die Schnauze an seinen Arm.
Friedrichs Atem wurde ruhiger. Er öffnete die Augen und strich Iska über den Kopf. Sein Blick ging zu Alwin. Ich habe dich damals gesehen, sagte er heiser. Am Fluss, hinter den Büschen. Du warst da, und dann warst du weg.
Alwin hob den Kopf. Seine Lippen waren trocken, doch er sprach klar. Ich war da. Ich habe ihn nicht halten können. Jasko hat gebellt, bis die Luft zerriss. Und dann war es still.
Friedrich nickte, langsam, als bestätige er etwas, das er längst gewusst hatte. Ich habe gedacht, ihr hättet ihn aufgegeben. Dass niemand mehr hinsah. Aber ihr habt getragen, was ihr konntet.
Ein Windstoß fuhr durch den Baum. Die wenigen Blätter raschelten, als wollten sie etwas bezeugen.
Immo trat näher, stellte sich zwischen die beiden Männer. Seine Stimme war fest, aber leise. Unsere Familien haben geschwiegen. Jeder für sich, jeder mit seiner Schuld, jeder mit seinem Verlust. Aber das Schweigen hat uns nicht geschützt. Es hat uns getrennt.
Raban spürte, wie diese Worte in ihm nachhallten. Er sah das Halsband an, roch das alte Leder. Es war mehr als ein Gegenstand. Es war die Brücke zwischen den Jahren, das Band zwischen Mensch und Tier, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Alwin trat einen Schritt auf Friedrich zu. Er nahm die Schatulle, öffnete sie und zeigte ihm den Inhalt: das Foto, das Brot, den Brief. Wir haben es erst gestern gefunden, sagte er. Vielleicht ist es spät. Aber nicht zu spät.
Friedrich nahm das Foto in die Hand. Sein Finger strich über die Gesichter. Ernst, jung, voller Hunger und doch mit einem Lächeln. Und daneben Jasko, wach, bereit. Friedrichs Augen füllten sich mit Wasser, das er nicht mehr zurückhielt.
Er legte das Foto behutsam zurück. Dann blickte er zu Raban. Du bist jung, sagte er. Aber du musst wissen: Es sind nicht nur Geschichten. Es war wirklich so. Und wenn du das Halsband trägst, trägst du mehr als Leder.
Raban nickte, ohne sprechen zu können. Er spürte, dass etwas in ihm wuchs – eine Verantwortung, die er nicht gewählt hatte, die aber nun bei ihm lag.
Sie standen lange schweigend dort. Nur die Sonne kämpfte sich durch den Nebel, legte helle Streifen auf die Wiese. Schließlich richtete Friedrich sich auf. Er wirkte schwerer, aber auch klarer.
Lasst uns zurückgehen, sagte er. Nicht mit den Dingen. Mit der Geschichte.
Der Weg ins Dorf war still. Nur das Knirschen der Schritte im Sand, das gelegentliche Schnauben von Iska. Als sie den Hof erreichten, blieb Friedrich stehen. Sein Blick glitt über die Scheune, die Pappeln, den Brunnen. Hier hat alles angefangen, murmelte er. Und hier soll es nicht mehr enden.
In der Scheune setzten sie sich um die Werkbank. Alwin stellte die Schatulle in die Mitte, legte das Foto daneben, die Pfeife, das Halsband. Es war, als läge nun ein kleiner Altar vor ihnen, nicht für Verehrung, sondern für Erinnerung.
Friedrich begann zu erzählen. Von seinem Bruder Rochus, von den Nächten im Winter, vom Teilen der letzten Rübe, vom Zorn und von der Hoffnung. Seine Stimme war rau, aber fest. Und Alwin ergänzte, sprach von Ernst, von den Wegen über das Eis, von den Pfiffen, die Jasko verstand.
Immo hörte zu, manchmal nickend, manchmal mit geschlossenen Augen. Für ihn war es das erste Mal, dass die Fäden zusammengenäht wurden, dass die Lücken gefüllt wurden, die er seit Kindheit gespürt hatte.
Raban sog jedes Wort auf. Er sah dabei auf Iska, die ruhig am Boden lag, den Kopf auf den Pfoten, die Augen halb geschlossen. Doch immer, wenn die Pfeife erwähnt wurde, zuckte ihr Ohr, als sei in ihr noch ein Rest jener alten Signale lebendig.
Die Stunden vergingen. Als die Sonne tief stand, schwieg Friedrich. Er sah auf die Hände, in denen der Ring lag. Dann hob er den Kopf. Morgen, sagte er, sollten wir an das Grab von Hilla gehen. Sie hat so lange gewartet. Es ist Zeit, ihr alles zu bringen.
Alwin nickte, ohne Worte. Seine Augen glänzten.
Raban spürte, dass etwas in Bewegung gekommen war, das nicht mehr aufzuhalten war. Die Geschichten hatten sich geöffnet, und nun verlangten sie nach einem Ziel.
Draußen färbte sich der Himmel rot. Ein Schwarm Kraniche zog über das Dorf. Ihr Ruf schnitt durch die Luft, hoch, sehnsuchtsvoll, wie ein Versprechen.
Raban legte das Halsband auf den Tisch, neben die Pfeife. Ein leises Klirren ging durch den Raum, als ob die beiden Dinge einander erkannt hätten.
In diesem Moment wussten alle, dass der nächste Tag mehr bringen würde als nur ein Gang zum Friedhof. Es würde ein Tag der Offenbarung sein, an dem die Vergangenheit endlich sprechen durfte.
Und als die Dunkelheit hereinbrach, hörte Raban noch einmal das Bellen. Nicht von Iska. Tief, weit entfernt, aber klar. Dreimal kurz, einer lang. Ein Ruf, der sie alle weiterführte.