🐾 Teil 4: Ein fremder Junge tritt ein
Die Kinder sahen ihn an, als hätte er ein Geheimnis ausgesprochen, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Es war keine Bitte, die Heinrich geäußert hatte, sondern eher ein Ruf in eine Leere hinein. Jonas war der Erste, der nickte. Es war kein großes Versprechen, nur ein leichtes Beugen des Kopfes, doch in diesem Nicken lag eine Sicherheit, die Heinrich verstand.
Am nächsten Morgen, als die Glocken sieben schlugen, stand er wieder im Flur. Der Korb war leer. Er griff nach ihm, doch seine Hände zögerten. Der Weg in den Garten, das Pflücken der Äpfel, all das hatte einen Sinn gehabt, solange Berta darauf wartete. Jetzt war das Haus still, und die Decke in der Stube roch noch nach ihr, aber sie war nicht mehr da.
Er stellte den Korb beiseite und ging zum Fenster. Die Bäume standen im Nebel, die Äste schwer von den Früchten. Ein Apfel fiel, dumpf, auf die Erde. Heinrich schloss die Augen. Da klopfte es an der Tür.
Die Kinder standen davor. Marie hielt ein Glas mit frischen Blumen in der Hand, die Zwillinge einen neuen Zettel, Jonas eine kleine Tüte mit selbstgebackenen Plätzchen. Sie traten ein, als gehörte es sich so, ohne zu fragen, ob sie durften. Ihre Stimmen füllten den Raum, nicht laut, aber stetig, wie das Wasser eines Brunnens.
Sie setzten sich an den Tisch. Heinrich goss Tee ein, obwohl er nur für sich selbst welchen gekocht hatte. Die Tassen waren ungleich, eine angeschlagen, eine mit verblasstem Muster, doch es störte niemanden. Marie stellte die Blumen neben die Kerze, die noch immer brannte.
Sie fragten nicht nach Berta. Sie wussten, was geschehen war. Stattdessen erzählten sie Geschichten von den Zetteln, die sie gemalt hatten. Jonas beschrieb, wie er den Baum mit den roten Punkten gezeichnet hatte. Leon lachte, weil er einmal ein Pferd malen wollte, das am Ende wie ein Hund mit Mähne aussah.
Heinrich hörte zu, und während er zuhörte, merkte er, dass das Haus nicht mehr so leer war. Er sah ihre Gesichter, sah die roten Wangen vom Laufen durch den Nebel, hörte ihre Stimmen, und es war, als habe die Stube einen neuen Atem bekommen.
Als sie gehen wollten, fragte Marie, ob sie morgen wiederkommen dürften. Heinrich wollte erst antworten wie immer, knapp, zurückhaltend. Doch diesmal sagte er nur: Ja.
Am nächsten Tag brachte er wieder den Korb mit. Doch anstatt ihn zu Berta zu tragen, stellte er ihn in die Mitte des Tisches. Die Kinder halfen ihm, die Äpfel zu waschen, trockneten sie ab und legten sie nebeneinander. Es war, als würden sie ein kleines Fest vorbereiten.
Frau Vogel kam vorbei, neugierig, warum es im Haus plötzlich so lebendig war. Sie setzte sich auf die Bank und erzählte von früher, als sie noch ein Mädchen war und ihre Eltern im Herbst Apfelmus einkochten, Gläser für den ganzen Winter. Sie schlug vor, das auch hier zu tun.
Noch am selben Nachmittag roch das Haus nach Zucker und Zimt. Die Kinder rührten in den Töpfen, lachten, stritten, versöhnten sich. Heinrich saß am Tisch, die Hände auf dem Schoß, und beobachtete sie. Es war, als käme ein alter Rhythmus zurück, den er längst verloren glaubte.
Abends stand er im Garten. Die Bäume rauschten leise. In seinem Inneren war eine Lücke, die kein Lärm füllen konnte. Aber er spürte, dass etwas Neues begann, klein, unscheinbar, wie die ersten Knospen im Frühling.
Die Tage vergingen, und die Kinder kamen immer wieder. Sie brachten Geschichten von der Schule, kleine Sorgen, die zwischen Hausaufgaben und Freunden entstanden. Heinrich hörte zu, manchmal gab er Ratschläge, oft schwieg er einfach. Es war genug, dass sie da waren.
Doch eines Abends, als er die Kerze neben der Decke anzündete, die noch immer im Zimmer lag, kam die Stille zurück, scharf und kalt. Er sah auf den leeren Platz und spürte, dass der Verlust nicht kleiner wurde. Er konnte ihn nicht mit Äpfeln, nicht mit Stimmen und auch nicht mit Zetteln füllen.
In dieser Nacht träumte er von Berta. Sie stand am Rand eines Feldes, das voller Blüten war, und sah ihn an. Er rief ihren Namen, aber sie lief nicht zu ihm. Sie stand nur da, ruhig, und hinter ihr lag ein Licht, das stärker war als die Sonne. Als er erwachte, war er schweißnass.
Am Morgen klopfte niemand an die Tür. Die Kinder kamen später, sie hatten Schule. Heinrich saß allein am Tisch. Der Korb war leer, die Bäume draußen voller Früchte. Er wusste, dass er sie pflücken musste, bevor der Frost kam. Doch seine Beine fühlten sich schwer an.
Er nahm den Stock, den er seit Jahren nicht mehr benutzt hatte, und ging hinaus. Die Erde war feucht, das Gras kühl. Er hob den Korb und begann, die Äpfel einzusammeln. Jeder Apfel klang anders, wenn er im Korb landete. Manche dumpf, manche hell, als würden sie reden.
Plötzlich hörte er ein Rascheln. Er sah auf und bemerkte am Zaun eine Gestalt. Ein Junge, älter als die Nachbarskinder, stand dort. Er wirkte fremd, die Hände in den Taschen, das Gesicht schmal. Er sah Heinrich lange an, dann rief er, ob er helfen solle.
Heinrich zögerte. Doch der Korb war schwer, und die Bäume voll. Er nickte schließlich. Der Junge kletterte über den Zaun und begann, die Äpfel aufzulesen. Sie arbeiteten schweigend, doch die Schritte im Gras klangen wie ein neues Kapitel, das noch keiner von beiden verstand.
Als sie fertig waren, stand der Korb voller roter Früchte. Heinrich sah den Jungen an und fragte nach seinem Namen.
Der Junge sagte: Paul.
Und mit diesem Namen begann ein weiterer Teil einer Geschichte, die noch lange nicht zu Ende war.