Der Apfelkorb | Die Geschichte von Heinrich, seiner Hündin Berta und einem Korb voller unerwarteter Wunder

🐾 Teil 5: Paul findet ein stilles Zuhause

Paul war sechzehn Jahre alt, das erfuhr Heinrich erst später. An jenem Tag, als der Junge einfach über den Zaun geklettert war, wirkte er älter und zugleich jünger, wie jemand, der sich zwischen zwei Welten verirrte. Seine Schultern waren schmal, sein Blick aber hatte etwas Hartes, das nicht zu einem Kind passte.

Sie trugen den Korb gemeinsam ins Haus. Paul setzte ihn auf den Tisch, als hätte er schon oft schwere Dinge geschleppt. Er wischte sich die Hände an der Hose ab, sah sich um, und sein Blick blieb an der Decke in der Stube hängen, dort, wo noch immer der Abdruck lag, den Bertas Körper hinterlassen hatte. Heinrich folgte seinem Blick, schwieg und stellte schließlich eine Tasse Tee vor ihn hin.

Paul sagte nicht viel. Er trank, langsam, als wolle er Zeit gewinnen. Die Kinder kamen später dazu und waren überrascht, ihn zu sehen. Jonas musterte ihn skeptisch, Marie hingegen lächelte sofort, und die Zwillinge stellten neugierige Fragen, die Paul mit knappen Worten beantwortete.

Am Abend, als alle gegangen waren, blieb Paul länger. Er half beim Abwasch, ohne dass jemand ihn darum bat. Als er ging, sagte er leise, dass er morgen wiederkäme. Heinrich nickte, ohne zu fragen, warum.

Am nächsten Tag kam er tatsächlich zurück. Er brachte keine Geschenke, keine Zettel, nur seine Hände. Er pflückte Äpfel, harkte das Laub, trug Holz ins Haus. Er arbeitete still, aber mit einer Entschlossenheit, die Heinrich auffiel. Es war, als suche der Junge nach einer Aufgabe, die ihn festhielt.

Nach und nach erzählte Paul von sich. Sein Vater war fort, die Mutter krank. Er lebte bei einer Tante, doch das Haus fühlte sich nicht wie Heimat an. Er sprach nicht oft, aber wenn er es tat, lag ein bitterer Ton in seiner Stimme, als trüge er Lasten, die zu schwer für sein Alter waren.

Heinrich hörte zu. Er fragte nicht viel, er drängte nicht. Er wusste, dass Menschen manchmal nur einen Ort brauchten, an dem sie schweigen durften.

Eines Nachmittags, als die Kinder wieder im Garten spielten und Paul neben dem Apfelbaum stand, erzählte Heinrich von Berta. Er sprach ruhig, ohne Pathos, doch jedes Wort schien aus einer Tiefe zu kommen, die Paul aufmerksam machte. Er hörte zu, ohne zu unterbrechen, und in seinen Augen lag für einen Moment ein Glanz, als verstünde er, dass dieser Hund mehr gewesen war als ein Tier.

Die Kinder hatten inzwischen angefangen, die Äpfel zu stapeln und Türme daraus zu bauen. Sie lachten, als die Türme zusammenbrachen, und der Garten füllte sich mit ihrem Rufen. Paul stand still daneben, die Hände in den Taschen, und sein Blick glitt immer wieder zu Heinrich. Es war, als ob er sich fragte, wie jemand, der so viel verloren hatte, noch aufrecht stehen konnte.

An diesem Abend setzte sich Paul nicht sofort in Bewegung, als die Glocken zur Vesper läuteten. Er blieb, bis die Dämmerung den Garten in Blau tauchte. Dann fragte er Heinrich, ob er morgen wiederkommen dürfe, auch wenn die anderen Kinder nicht da wären.

Heinrich nickte.

Die nächsten Tage wurden dunkler. Nebel legte sich früh in die Straßen, die Luft roch nach feuchtem Holz. Heinrich spürte die Kälte in den Knochen, doch der Garten rief ihn. Gemeinsam mit Paul las er Äpfel auf, und sie sprachen wenig, aber ihre Bewegungen passten sich einander an. Es war eine stille Vertrautheit, die wuchs, ohne dass jemand sie bemerkte.

Doch eines Abends kam Paul nicht. Heinrich wartete, doch die Schritte blieben aus. Am nächsten Tag erschien er wieder, aber sein Gesicht war blass, die Augen müde. Er sagte, dass seine Mutter ins Krankenhaus gekommen sei, dass die Tante ihn fortgeschickt habe, weil sie selbst keine Kraft mehr hatte.

Heinrich sah ihn lange an. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, so fest, dass Paul sie spüren musste. Dann sagte er nur, dass er bleiben könne, solange er wolle.

Paul schluckte, nickte, und in diesem Nicken lag ein Aufatmen, das tiefer war als Worte.

Als die Kinder am Nachmittag wiederkamen, merkten sie, dass sich etwas verändert hatte. Paul saß mit am Tisch, nicht mehr als Gast, sondern als jemand, der dazugehörte. Sie lachten, sie malten neue Zettel, und diesmal malte Paul mit. Sein Strich war kantig, unsicher, doch er malte einen Hund mit dunklen Augen und stellte den Zettel ohne ein Wort in den Korb.

Heinrich sah es. Er lächelte nicht, aber seine Augen wurden weich. Der Korb, der einst nur für Berta bestimmt war, begann ein neues Leben zu tragen.

Doch in jener Nacht, als er wieder träumte, sah er nicht nur Berta. Er sah auch Paul, wie er neben ihr stand, im selben Licht, und etwas in Heinrichs Brust zog sich schmerzhaft zusammen.

Als er erwachte, wusste er, dass dieser Korb mehr geworden war als ein Gefäß für Äpfel. Er war ein Band, das Menschen zusammenhielt, die sonst verloren gegangen wären.

Und mit diesem Gedanken griff er am nächsten Morgen fester nach dem Henkel, als die Glocken sieben schlugen.

Scroll to Top