Der Heiligabend, an dem ein leeres Haus uns alle wieder zusammenführte

Mein Sohn Timo, der in Köln wohnt, denkt, ich verbringe den Heiligabend bei meiner Tochter Julia.

Meine Tochter Julia, die als Notaufnahmeschwester im städtischen Krankenhaus hier in der Stadt arbeitet, denkt, ich fahre mit dem Zug nach Köln, um bei Timo zu sein.

Die Wahrheit?

Es ist 18 Uhr am Heiligabend.

Ich bin 79 Jahre alt, lebe in einem ruhigen Reihenhaus am Stadtrand von Essen. Und ich habe gerade den Tisch für eine Person gedeckt.

Mein Name ist Franz. Ich habe fünfundvierzig Jahre lang im Stahlwerk in Duisburg gearbeitet. Ich habe Schichten erlebt, die Männer gebrochen haben, Werksschließungen, die ganze Familien auseinandergerissen haben, und ich habe gesehen, wie meine Kinder groß geworden sind und ihr eigenes Leben begonnen haben.

Meine Frau Maria ist seit sechs Jahren nicht mehr da. Sechs lange Heiligabende.

Als sie noch lebte, begann dieser Tag um sechs Uhr morgens. Gegen zehn Uhr roch das ganze Haus nach Rotkohl, Klößen und ihrem Gänsebraten. „O du fröhliche“ lief aus dem Radio, und ich war fürs Kartoffelschälen zuständig. Ich brauchte immer zu lange, und sie stupste mich lachend mit dem Kochlöffel an. Das Haus fühlte sich voll an. Warm. Lebendig.

Dieses Jahr ist es so still, dass ich das Knistern der Heizung höre.

Die Anrufe kamen letzte Woche.

Timo war zuerst dran.

„Papa, in Köln ist wieder Chaos, Schnee und Zugausfälle. Die Kleine hat schon wieder Fieber, und wir schaffen es einfach nicht weg. Aber du bist ja bei Julia, oder? Das wird bestimmt schön.“

Ich sah das eingerahmte Foto seiner Familie im Wohnzimmer.

„Natürlich, Junge. Macht euch keine Sorgen. Bleibt bei den Kindern und haltet sie schön warm.“

Dann rief Julia an, ihre Stimme schon erschöpft.

„Papa… wir haben wieder Personalmangel. Heute wird’s im Krankenhaus die Hölle. Ich muss eine Doppelschicht übernehmen. Es tut mir so leid. Aber du bist doch bei Timo, oder? Gott sei Dank. Drück die Kinder von mir.“

Ich sah aus dem Fenster auf die stille Straße.

„Natürlich, mein Schatz. Geh du mal Menschen helfen. Ich komm schon klar.“

Die Lügen fühlten sich nicht mal wie Lügen an. Sie fühlten sich… einfacher an.

Einfacher, als die Wahrheit zu sagen:

Bitte. Lasst mich heute nicht allein. Ich will nicht allein sein.

Ein ganzes Leben lang ist man der Fels in der Brandung. Der Mann, der das Fahrrad repariert, den Schnee schippt, die Rechnungen bezahlt. Und irgendwann hat man verlernt zu sagen: Ich brauche euch.

Am Morgen des Heiligabends wachte ich vor Sonnenaufgang auf. Gewohnheit. Ich machte Kaffee und setzte mich an den Küchentisch. Die Stille war so schwer, dass sie sich wie ein eigener Gast anfühlte.

Selbst mein alter Beagle, Bodo, schlief nur in seinem Körbchen, als wüsste er, dass dieser Tag keine Bedeutung mehr hat.

„Wir müssen irgendwas tun“, sagte ich zu ihm.

Ich erinnerte mich an Marias alte Weihnachtsplatte aus Porzellan. Die mit dem goldenen Rand. Sie stand ganz oben im Vorratsschrank.

Ich nahm die alte Holz-Stehleiter. Die mit dem wackligen Bein, das ich seit zehn Jahren reparieren wollte.

Ich stieg hinauf.

79, nicht 29. Ich wusste, dass es dumm war.

Meine Finger berührten gerade das kalte Porzellan, als der Schritt nicht nur wackelte — er brach.

Ich fiel rückwärts.

Die Zeit wurde zäh. Mein Kopf verfehlte die harte Kante der Arbeitsplatte um wenige Zentimeter. Ich landete flach auf dem Rücken. Die Platte zerbarst neben mir in hundert weiße Stücke.

Ich lag da. Starrte an die Decke. Ich bekam keine Luft. Konnte mich nicht bewegen.

Mein erster Gedanke war nicht der Schmerz.

Sondern:

So findet man dich. Morgen. Oder übermorgen. Wenn keiner mehr fragt.

Bodo sprang sofort zu mir, winselnd, leckte über mein Gesicht. Seine Panik holte mich zurück.

„Schon gut, Junge“, keuchte ich. „Ich bin noch nicht fertig.“

Es dauerte zehn Minuten, bis ich auf die Knie kam. Meine Hüfte brannte. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum die Arbeitsplatte fassen konnte. Als ich endlich stand, war ich nicht nur ein alter Mann.

Ich war ein alter Mann, der völlig, restlos allein war.

Gans gab es keine.

Ich kehrte die Scherben zusammen, warf sie weg und machte mir ein Wurstbrot.

Um 20 Uhr vibrierte mein Handy. Ein Videoanruf. Timo.

Sein lächelndes Gesicht erschien, die Kinder lärmten im Hintergrund.

„Papa! Na, wie läuft’s bei Julia? Hat sie wieder ihren Kartoffelsalat gemacht? Zeig mal den Tisch!“

Darauf war ich nicht vorbereitet. Die Kamera zeigte genau meine leere Küche.

Den einzelnen Teller.

Das halb gegessene Wurstbrot.

„Sie ist… äh… in der Küche“, stammelte ich.

„Ruf sie doch mal!“ lachte er.

Seine Frau beugte sich ins Bild.

„Franz! Zeig uns den Tisch! Wir wollen alles sehen!“

Dann sahen sie es.

Die dunkle Küche.

Den Tisch mit nur einem Gedeck.

Die Stille.

Timos Lächeln verschwand nicht einfach — es brach in sich zusammen.

„Papa… wo ist Julia?“ fragte er leise.

Ich schluckte. „Im Krankenhaus. Sie arbeitet.“

„Und… wo bist du?“

„Zu Hause. Es ist wirklich…“

„Du bist allein?“

Sein Gesicht wurde bleich. Ich hörte ihn off-camera flüstern:

„Er ist allein. Den ganzen Tag. Er war allein!“

Bevor ich sagen konnte „Mach dir keine Sorgen“, war der Anruf weg.

Das Haus wurde noch stiller. Ich schaltete das Fernsehen ein. Irgendein Weihnachtskonzert. Es war mir egal.

Zwei Stunden später bellte Bodo. Laut. Dringend.

Scheinwerferlicht fiel durch das Fenster.

Eine Autotür schlug zu. Dann noch eine.

Ich stand langsam auf, Hüfte schmerzhaft, und öffnete die Haustür.

Da standen sie.

Julias kleiner Kompaktwagen.

Timos Mietwagen.

Sie stiegen aus, hastig, erschöpft.

Julia noch in ihrer blauen Krankenhauskleidung, die Haare wirr, die Augen gerötet.

Timo und seine Frau in Jogginghosen, die Kinder im Schlafanzug, Decken im Arm.

Julia lief wortlos an mir vorbei, ließ ihre Tasche fallen und umarmte mich so fest, dass mir fast der Atem wegblieb.

„Es tut mir so leid, Papa. So, so leid.“

Timo folgte, eine Warmhaltebox in der Hand.

„Wir sind Idioten“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Echte Idioten. Aber jetzt sind wir hier.“

Die Kinder umklammerten meine Beine, müde und zitternd vor Kälte.

Wir setzten uns an den alten Küchentisch.

Holten Stühle aus dem Esszimmer.

Timo hatte den restlichen Kartoffelsalat vom unterbrochenen Abendessen dabei.

Julia hatte ein warmes Brathähnchen aus dem Supermarkt mitgebracht.

Wir aßen Brathähnchen und Kartoffelsalat von Papptellern.

Die Enkel schliefen auf dem Sofa ein.

Wir redeten.

Richtig geredet.

Es war der beste Heiligabend seit Marias Tod.

Und das habe ich gelernt und das sollten alle erwachsenen Kinder wissen:

Wir Eltern sagen immer „Es geht schon“ und „Mach dir keine Sorgen“.

Wir sagen es selbst dann, wenn die Knochen schmerzen.

Wenn das Haus zu ruhig wird.

Wenn die Einsamkeit drückt.

Eure Aufgabe ist es, zu wissen, dass wir lügen.

Eure Aufgabe ist es, noch einmal nachzufragen.

Eure Aufgabe ist es, den Bruder oder die Schwester anzurufen.

Eure Aufgabe ist es, sicherzugehen.

Und wenn eure Mutter oder euer Vater an Heiligabend „ganz okay“ klingt…

fahrt hin.

Kommt später.

Bringt Reste mit.

Bringt ein warmes Hähnchen vom Supermarkt.

Es ist völlig egal.

Denn diese Häuser werden leise.

Diese Knochen werden brüchig.

Und irgendwann würdet ihr alles auf der Welt dafür geben, noch einmal an diesem Tisch zu sitzen.

Wartet nicht.

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