Der Heiligabend, an dem ein leeres Haus uns alle wieder zusammenführte

Wenn ich heute von diesem Abend erzähle, dann nicht, weil ich noch einmal Mitleid will, sondern weil ich erst viel später begriffen habe, dass unser Heiligabend an diesem Küchentisch nicht endete, als das Hähnchen alle war, sondern dort überhaupt erst anfing, eine neue Geschichte zu schreiben.

Dies hier ist der zweite Teil dieser Geschichte.

Wir saßen noch lange da, nachdem die Teller leer waren.

Die Uhr über dem Herd tickte in die Nacht hinein, Julia gähnte so heftig, dass ihr die Tränen kamen, und Timo starrte immer wieder auf meine Hüfte, als könnte er durch den Stoff hindurch sehen, ob da etwas kaputt war.

„Papa, du gehst zum Arzt“, sagte er irgendwann.

Kein Vorschlag, eher ein Befehl.

„Morgen noch“, setzte er hinzu.

Ich winkte ab. „Ach was, ein bisschen geprellt, das legt sich.“

Julia stand auf, kam um den Tisch herum und kniete sich neben mich, als wäre ich ein Patient auf der Station.

Ihre Hände tasteten mit der Routine einer Schwester an der Seite meiner Hüfte entlang.

Als ihre Finger auf eine bestimmte Stelle drückten, schoss mir der Schmerz bis in den Hinterkopf.

„Autsch“, entfuhr es mir.

Sie sah zu mir hoch.

„Gut, das war das medizinische Gutachten“, sagte sie leise. „Du gehst zum Arzt. Punkt.“

Ich wollte protestieren, aber Bodo schnaufte zustimmend unter dem Tisch, als hätte er auch ein Stimmrecht.

Die Enkel hatten sich inzwischen in eine Deckenburg auf dem Sofa eingekuschelt, auf dem Fernseher liefen längst Wiederholungen.

Es roch nach kaltem Brathähnchen, nach Kartoffelsalat, nach müden Kindern und nach etwas, das ich lange nicht mehr im Haus gespürt hatte: nach Familie.

Später, als alle verteilt in meinen zu kleinen Zimmern lagen, stand ich allein im Flur.

Julias Jacke hing über dem Stuhl, Timos Schuhe standen schief neben der Matte, auf der Treppenstufe lag ein kleiner, bunter Kindersocken.

Normalerweise hätte mich diese Unordnung genervt.

An diesem Abend stellte ich mich nur hin und sah es an, als würde ich ein Kunstwerk betrachten.

So sieht es aus, wenn ein Haus atmet, dachte ich.

So riecht es, wenn man nicht vergessen wurde.

Am nächsten Morgen fuhren wir tatsächlich in die Notaufnahme.

Julia hatte sich durchgesetzt, natürlich.

Timo packte die Kinder ins Auto, ich nahm Bodo an die Leine, als würde er mitbestimmen dürfen, was der Arzt sagt.

Im Wartebereich roch es nach Desinfektionsmittel und abgestandenem Kaffee.

Julia war in ihrem Element, nickte Kolleginnen zu, erklärte hier etwas, beruhigte da jemanden.

Ich fühlte mich fehl am Platz in meinem alten Wintermantel, mit dem Pflaster auf der Handfläche von den Porzellanscherben.

„Name?“, fragte die Dame an der Anmeldung.

„Franz Müller“, sagte ich.

„Was ist passiert?“

Ich sah kurz zu Julia.

Die Wahrheit schmeckte immer noch ungewohnt auf der Zunge.

„Ich bin allein auf eine wackelige Leiter gestiegen, weil ich die Weihnachtsplatte meiner Frau holen wollte“, sagte ich. „Das war dumm.“

Die Dame sah auf, ihre Augen wurden weich.

„Setzen Sie sich bitte, Herr Müller. Sie sind hier richtig.“

Es stellte sich heraus, dass tatsächlich nichts gebrochen war.

Starke Prellung, sagte der Arzt, Schonung, sagte er, und noch ein paar andere Dinge, die ich sofort wieder vergaß.

Was ich mir merkte, war der Blick, den Julia und Timo sich über meinen Kopf hinweg zuwarfen.

Es war kein Vorwurf in diesem Blick.

Es war Angst.

Und ein stilles Versprechen.

Auf dem Rückweg im Auto war es eine Weile still.

Die Kinder schliefen wieder, Bodo schnarchte leise in meinem Schoß.

Der Himmel über dem Ruhrgebiet war grau, der Schnee matschig und schmutzig am Straßenrand.

„Papa“, begann Timo schließlich, die Hände fest am Lenkrad, „wir müssen etwas ändern.“

Ich sagte nichts.

Ich hatte das Gefühl, dass dieser Satz schon lange in ihm gewartet hatte.

„Wir haben uns eingeredet, dass du stark bist, dass du klarkommst, dass du deine Ruhe willst“, fuhr er fort.

„Aber ehrlich gesagt war es bequemer für uns, das zu glauben.“

Julia drehte sich auf dem Beifahrersitz zu mir um.

„Du hast uns beigebracht, niemanden zur Last fallen zu wollen“, sagte sie sanft.

„Aber vielleicht hast du uns auch beigebracht, nicht genau hinzuschauen, wenn jemand leise ist.“

Ihre Worte trafen mich, aber nicht wie ein Schlag.

Eher wie eine Hand, die vorsichtig eine Tür öffnet, die lange geklemmt hat.

Zu Hause, zurück in meinem Reihenhaus, setzten wir uns noch einmal an den Küchentisch.

Dieses Mal ohne Hektik, ohne Telefon, ohne laufenden Fernseher.

Nur wir und die Reste vom Vortag.

Timo holte sein Handy heraus.

„Wir machen jetzt eine Familiengruppe“, sagte er.

„Nicht diese, wo man nur Urlaubsbilder schickt und lustige Videos. Eine echte. Mit Regeln.“

„Regeln?“, fragte ich und schnaubte. „Ich bin zu alt für Regeln.“

„Die wichtigste ist einfach“, mischte Julia sich ein.

„Niemand von uns verbringt die Feiertage allein. Kein Geburtstag, kein Heiligabend, nichts. Wenn sich Pläne ändern, reden wir. Ehrlich.“

Sie legte ihr Handy neben meins auf den Tisch.

Es sah fast lächerlich aus, dieses kleine leuchtende Gerät neben meinen alten Händen mit den braunen Altersflecken.

Aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass dieses Ding mehr war als nur ein Störgeräusch.

In den Wochen danach passierte nichts Spektakuläres.

Keine dramatischen Szenen, keine großen Reden.

Aber es änderte sich etwas in den kleinen Dingen.

Julia rief nicht mehr nur an, wenn sie gerade zwischen zwei Schichten Zeit hatte.

Manchmal schickte sie einfach ein Foto von der Mittagspause mit den Kollegen und zwei Worten: „Bin müde.“

Früher hätte ich ihr geschrieben „Du schaffst das“.

Jetzt schrieb ich: „Soll ich Suppe vorkochen, die du dir nur warm machen musst?“

Timo schickte öfter Videos von den Kindern.

Nicht nur die, in denen sie niedlich sangen oder lachten.

Auch die, in denen sie sich stritten, weinten, wütend waren.

Das echte Leben.

Und manchmal eine einfache Frage: „Papa, hast du heute jemanden gesehen? Oder warst du nur mit Bodo unterwegs?“

Am Anfang wollte ich noch automatisch antworten: „Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen.“

Meine Finger schrieben das wie von selbst.

Dann löschte ich die Worte wieder.

Ich übte zu sagen: „Heute war es ein bisschen einsam.“

Oder: „Ich würde mich freuen, wenn du morgen kurz vorbeikommst.“

Es fühlte sich an, als würde ich nach all den Jahren wieder sprechen lernen.

Eines Abends, Monate später, saß ich mit einer Tasse Tee am Küchentisch, als es an der Tür klingelte.

Vor der Tür stand Frau Schneider, meine Nachbarin von gegenüber, mit einem Blech Plätzchen in der Hand.

„Ihre Kinder waren bei mir“, sagte sie, noch bevor ich fragen konnte.

„Sie haben gesagt, wir sollen uns melden, wenn wir merken, dass bei Ihnen lange kein Licht an ist oder der Vorhang den ganzen Tag zu bleibt.“

Sie lächelte schief.

„Also melde ich mich. Mögen Sie Zimtsterne?“

Wir lachten, und ich ließ sie hinein.

Zum ersten Mal seit Marias Tod dachte ich darüber nach, dass Alleinsein und Einsamkeit nicht dasselbe sind.

Man kann Türen schließen.

Aber man kann sie auch wieder öffnen.

Als der nächste Heiligabend näherkam, begann in meinem Bauch ein bekanntes Ziehen.

Die Erinnerung an die Porzellanplatte, an den Fall, an das Wurstbrot.

Ich dachte daran, wie leicht es ist, in alte Muster zurückzurutschen.

Doch dieses Jahr war etwas anders.

Schon Anfang Dezember schickte Timo eine Nachricht in die Familiengruppe: „Planung Weihnachtslogistik. Wer schläft wo, wer bringt was mit, und wer ist für den Kartoffelsalat zuständig?“

Julia antwortete sofort: „Papa ist für nichts zuständig außer Geschichten erzählen und Bodo füttern.“

Ich starrte eine Weile auf den Bildschirm.

Dann schrieb ich: „Ich hätte nichts gegen ein kleines bisschen Kartoffelschälen.“

Die drei tanzenden Lachsmileys, die daraufhin eintrafen, hätten Maria gefallen.

Heiligabend begann wieder um sechs Uhr morgens.

Nicht, weil ich es musste, sondern aus Gewohnheit.

Ich machte Kaffee, Bodo trottete schläfrig hinter mir her.

Es war noch dunkel draußen, aber in mir war es nicht mehr so still wie im Jahr zuvor.

Gegen neun Uhr fuhr das erste Auto vor.

Dann das zweite.

Der Flur füllte sich mit Jacken, Mützen, Schuhen.

Mit Stimmen, die durcheinanderredeten, mit Kinderlachen, mit Julias müdem, aber glücklichem Lächeln.

Wir saßen später wieder an meinem Küchentisch.

Kein Gänsebraten, kein großes Festmahl.

Brathähnchen aus dem Supermarkt, Kartoffelsalat, ein Topf Suppe.

Pappteller, wie im letzten Jahr.

Aber dieses Mal waren es viele Pappteller.

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