Zwischendurch schaute ich auf den leeren Platz am Tisch, dort, wo früher Maria gesessen hatte.
Eine neue, schlichte Porzellanplatte stand dort, ohne Goldrand.
Wir hatten sie zusammen gekauft, Julia und ich, an einem ganz normalen Dienstag.
„Du siehst traurig aus“, sagte meine Enkelin, die plötzlich neben mir stand.
Sie war inzwischen acht, die Haare länger, aber die Augen immer noch dieselben.
„Denkst du an Oma?“
Ich nickte.
„Ja“, sagte ich. „Aber nicht nur traurig. Eher… dankbar.“
„Warum?“
Ich legte ihr meine Hand auf den Kopf.
„Weil sie mir beigebracht hat, wie sich ein volles Haus anfühlt“, antwortete ich.
„Und weil ihr mir beigebracht habt, dass man sagen darf, wenn es leer geworden ist.“
Später an diesem Abend, als die Kinder schon im Schlafanzug mit heißem Kakao auf dem Sofa saßen, holte Timo sein Handy heraus.
„Papa, erzähl die Geschichte“, sagte er.
„Welche?“
„Die von dem Heiligabend mit dem Wurstbrot“, mischte Julia sich ein. „Die sollen sie hören.“
Also erzählte ich.
Vom wackeligen Leiterbein.
Von den Scherben auf dem Boden.
Von Bodos panischem Jaulen.
Von dem Moment, in dem eine Kamera mir die Einsamkeit aus der Hand riss und sie meinen Kindern ins Gesicht hielt.
Die Kinder hörten zu, mit großen Augen.
„Opa“, sagte die Kleinste schließlich, „wenn ich groß bin und du sagst, es geht dir gut, dann komm ich trotzdem.“
Alle lachten, aber mir stieg die Träne in die Augen.
Wenn ich heute an euch schreibe, an alle erwachsenen Kinder, dann nicht, um jemanden anzuklagen.
Ihr habt euer Leben, eure Sorgen, eure Rechnungen, eure Müdigkeit.
Ich weiß das. Ich war selbst einmal in euren Schuhen.
Aber denkt an den Mann mit dem Wurstbrot und dem leeren Tisch.
Er ist nicht nur ich.
Er ist euer Nachbar.
Eure Mutter, die sagt „Mach dir keinen Stress“.
Euer Onkel, der lässig meint „Ich mag die Ruhe“.
Manchmal braucht es keinen perfekten Braten, keine dekorierte Tafel, keine goldene Platte.
Manchmal reicht ein Brathähnchen aus dem Supermarkt, ein zu kleiner Tisch und ein Auto voller müder Kinder in Schlafanzügen.
Manchmal reicht es, einfach aufzutauchen.
Der Rest ergibt sich.
Das habe ich im zweiten Teil meines Lebens gelernt.
Und wenn ich mir etwas wünschen darf, dann dies:
Dass ihr, wenn ihr das nächste Mal sagt „Ich melde mich bei Papa, wenn ich Zeit habe“, den Satz ein bisschen verändert.
Sagt: „Ich mache mir Zeit.“
Und dann klingelt ihr.






