Der Hund am Grab | An ihrem Geburtstag traf sie ihn – den Hund, der ihre ganze Welt veränderte

Teil 4: Schatten der Vergangenheit

„Oma“, sagte Nina zögernd, „darf ich dir eine verrückte Frage stellen?“

Elsa hielt das Handy etwas dichter ans Ohr.
„Du darfst alles fragen. Ob ich antworte, ist eine andere Sache.“

Nina lachte leise. Es war dieses warme, ein wenig belegte Lachen, das Elsa immer an ihre Tochter erinnerte.
Die Tochter, die viel zu früh gegangen war – Ninas Mutter.
Ein Autounfall. 2004. Damals war Nina noch ein Kind.

„Ich hab dieses Gefühl… Ich glaube, ich kenne diesen Hund.“

Elsa schwieg kurz.
Dann setzte sie sich auf die Bettkante.
„Wie meinst du das?“

„Ich hab geträumt. Zwei Nächte hintereinander. Ich war klein, vielleicht sechs oder sieben. Ich lag unter der Decke im Wohnzimmer, und da war ein Hund. Dunkles Fell, helle Stirn. Und ich hab ihn Moritz genannt.“

Elsa schluckte.

„Kann das sein, Oma? Gab’s früher einen Moritz, als Mama noch gelebt hat?“

„Wilhelm hatte einen Hund. Lange vor deiner Zeit. Aber deine Mutter… nein, sie hatte nie einen.“

„Ich hab’s aber so klar gespürt. Sein Fell. Sein Atem. Als wäre er damals schon bei mir gewesen.“

Elsa stand auf, ging zum Fenster. Draußen war es still. Die Trinitatisstraße lag unter einer Schicht aus glitzerndem Frost.

„Weißt du, Nina“, sagte sie langsam, „vielleicht gibt es Dinge, die man nicht erklären kann. Manche Tiere finden uns. Und manche kehren zurück.“

Am anderen Ende der Leitung schwieg Nina.
Dann sagte sie:
„Ich komm dich besuchen. Im Februar. Ich muss das selbst sehen.“


Die Tage vergingen ruhig.
Moritz wurde schwächer, das merkte Elsa.
Er schlief mehr. Ging seltener nach draußen. Manchmal fraß er nichts.
Und doch – sein Blick blieb wach. Seine Nähe blieb tröstlich.

Elsa begann, Tagebuch zu schreiben.
Nicht für sich. Für Nina.

„Falls ich irgendwann nicht mehr bin, soll jemand wissen, was Moritz für mich war. Und für uns. Vielleicht wird sie dann verstehen, warum ich an mehr glaube als an Zufall.“

Sie klebte das Foto von Wilhelm und dem ersten Moritz vorne ein.
Schrieb die Jahreszahlen dazu.
Legte getrocknete Rosenblätter zwischen die Seiten, die sie am Grab gesammelt hatte.


An einem frostigen Nachmittag – es war der 5. Februar – klopfte es an der Tür.
Zwei kurze Schläge. Zögerlich.
So klopfte nur jemand, der sich nicht sicher war, ob er willkommen war.

Elsa öffnete.
Und da stand sie: Nina.

Groß, schlank, mit einem schlichten Mantel und wachen Augen.
Ihre Haare zu einem lockeren Dutt gebunden, ein kleiner Rucksack über der Schulter.

„Hallo, Oma.“

Elsa nahm sie einfach in den Arm.
„Du bist früh dran.“

„Ich konnte nicht länger warten.“

Moritz kam in den Flur getrottet.

Nina kniete sich hin.
„Na du… erinnerst du dich an mich?“

Er schnupperte, senkte dann langsam den Kopf auf ihre ausgestreckte Hand.

Elsa sah es.
In diesem Moment war da etwas. Eine stille Wiedererkennung. Kein freudiges Anspringen, kein Schwanzwedeln.
Nur diese Nähe – ruhig, selbstverständlich.

„Er wusste es“, flüsterte Nina. „Ich weiß es auch.“


In den folgenden Tagen lebten sie zu dritt in einer stillen Vertrautheit.
Nina kochte. Elsa erzählte.
Und Moritz – der schlief, wachte, trottete ihnen nach, als wollte er jeden Moment noch mitbekommen.

Eines Abends saßen sie zu dritt am Tisch, als Nina plötzlich fragte:
„Oma… war Wilhelm gläubig?“

Elsa dachte lange nach.
„Nicht im kirchlichen Sinn. Aber er hat geglaubt, dass nichts je ganz vergeht. Dass das, was wir lieben, immer einen Weg zurückfindet.“

„Und du?“

Elsa sah auf Moritz.
Sein Kopf lag auf ihrer Fußspitze.

„Ich habe es lange vergessen. Aber jetzt… glaub ich es auch.“


Am 11. Februar kam ein Anruf vom Tierarzt.

„Frau Meißner, Sie hatten doch um einen Rückruf gebeten. Ich habe die Blutwerte von Moritz. Es sieht leider nicht gut aus. Seine Organe arbeiten nur noch eingeschränkt. Ich kann nicht sagen, wie lange er noch hat – aber viel Zeit bleibt nicht.“

Elsa sagte nur: „Danke.“

Dann legte sie auf.

Sie ging in den Wintergarten, wo Moritz lag.
Setzte sich neben ihn.
Legte ihm die Hand auf den Rücken.

„Also wird es bald Zeit.“

Er hob den Kopf.
Sah sie lange an.
Dann stand er auf, ging langsam zur Terrassentür, sah hinaus.

„Du willst noch mal raus?“

Sie öffnete die Tür.

Moritz trat hinaus in den Schnee.
Langsam. Würdevoll.

Und Elsa folgte ihm.


Sie liefen gemeinsam bis zum Elbufer.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen.
Der Himmel war klar, die Luft schneidend.

Moritz blieb an der alten Bank stehen.
Der Platz, an dem sie mit Wilhelm oft gesessen hatte.

Elsa setzte sich.
Moritz legte sich zu ihren Füßen.

„Weißt du“, sagte sie leise, „ich dachte immer, man muss Abschied laut nehmen. Mit Tränen und letzten Worten.“

Sie streichelte sein Fell.

„Aber vielleicht… ist es das, was zählt: Jemanden zu begleiten. Bis zum Ende.“


Sie blieben eine Stunde dort.
Dann gingen sie zurück.

Nina stand schon an der Tür.
„Ich hab Tee gemacht“, sagte sie.
Aber ihr Blick fiel auf Moritz.

„Geht’s ihm schlechter?“

Elsa nickte.
„Er bereitet sich vor.“


Am nächsten Morgen atmete Moritz schwer.
Er lag im Schlafzimmer, neben dem Bett.
Elsa saß bei ihm.
Nina brachte eine Decke, warmen Tee, streichelte ihm über den Kopf.

„Wir sind bei dir“, flüsterte sie.
„Du musst nicht allein gehen.“

Moritz öffnete kurz die Augen.

Ein letzter Blick.
Dann sank er still zurück.

Sein Atem wurde flacher.
Langsamer.
Und dann – nichts mehr.

Nur Stille.

Aber keine kalte, leere Stille.
Sondern eine Stille, die gefüllt war mit Liebe.


Elsa weinte nicht.
Sie nahm ihn in den Arm, so gut es ging.
„Danke“, flüsterte sie. „Für alles.“

Nina saß daneben, hielt ihre Hand.
Und sagte nur:
„Vielleicht kommt er ja wieder. Irgendwann.“

Elsa nickte.

Vielleicht.
Vielleicht.


Doch niemand ahnte, dass Moritz’ Abschied ein letztes Geschenk in sich trug – eines, das bald entdeckt werden würde.

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