Teil 6: Ein Herz beginnt zu ticken
Leni war anders als Moritz.
Sie war lebhaft, tapsig, neugierig – und ein wenig tollpatschig.
Ihre Pfoten zu groß für ihren Körper, ihr Gang manchmal noch wackelig, wie bei einem frisch geborenen Rehkitz.
Aber sie brachte etwas mit, das im Haus lange geschlafen hatte:
Bewegung.
Leben.
Ein kleines Chaos.
Schon am ersten Tag rannte sie dreimal gegen das Tischbein, bellte ihr eigenes Spiegelbild im Flurspiegel an und versteckte Ninas Hausschuh unter dem Küchentisch.
„Sie ist ein Wildfang“, lachte Nina, als sie versuchte, den Schuh zu retten.
Elsa saß auf dem Sessel am Fenster, die Hände um ihre Teetasse gelegt.
Sie beobachtete Leni mit einem Blick, der gleichzeitig müde und jung war.
So wie jemand schaut, der viel verloren – und gerade wieder etwas gefunden hat.
„Ein Wildfang“, wiederholte Elsa leise. „Aber mit einem guten Herzen.“
Leni schlief anfangs nur schwer.
Sie fiepte oft nachts, scharrte an Türen, wollte nicht allein sein.
Elsa stellte ihr Körbchen neben ihr Bett.
„Ich weiß, was Einsamkeit ist, Kleine“, flüsterte sie. „Aber hier bist du nicht mehr allein.“
In der zweiten Nacht kroch Leni heimlich aus ihrem Korb und legte sich direkt auf Elsas Fuß.
Sie sagte nichts – weder Hund noch Mensch.
Aber beide spürten: Da war etwas zwischen ihnen.
Noch nicht gewachsen – aber angelegt wie ein Samenkorn in frostiger Erde.
An einem Mittwochmorgen – draußen lag noch Schnee, aber die Sonne ließ ihn glänzen – klingelte es an der Tür.
Nina öffnete.
Ein junger Mann stand davor, etwas verschüchtert, mit einem Päckchen unter dem Arm.
„Entschuldigung… ich wohne zwei Häuser weiter. Ich… äh… hab Ihre Oma manchmal mit dem alten Hund gesehen. Und… das hier ist für sie.“
Er reichte das Päckchen Nina, nickte und ging, bevor sie etwas sagen konnte.
Elsa öffnete es in der Küche.
Drin war ein kleines gerahmtes Aquarell – Moritz unter dem alten Baum am Elbufer.
Zart gezeichnet. Mit weichen Farben.
Darunter stand mit feiner Schrift: „Treue bleibt.“
Elsa sagte nichts.
Aber ihre Hände zitterten leicht, als sie das Bild auf das Sideboard stellte – neben das von Wilhelm.
„Er fehlt ihnen auch“, sagte Nina leise.
Elsa nickte.
„Aber er ist nicht weg.“
In den nächsten Wochen zeigte Leni, was sie alles kannte – und noch nicht konnte.
Sie zerstörte ein Sofakissen, fraß eine halbe Serviette und pinkelte auf Ninas Skizzenrolle.
Aber sie brachte auch ein kleines Stöckchen von draußen mit und legte es Elsa auf den Schoß.
Ein Geschenk. Ganz ernst gemeint.
„Danke“, sagte Elsa. „Das ist mehr, als mir viele Menschen je gegeben haben.“
An einem Sonntag machte Elsa etwas, was sie lange nicht getan hatte:
Sie öffnete das alte Notenheft von Wilhelm.
Er hatte früher Geige gespielt – in einem Laienorchester.
Seine Lieblingsmelodie: „Abendlied“ von Josef Rheinberger.
Elsa setzte sich ans Klavier.
Die Finger taten ihr weh – aber sie spielte.
Langsam.
Brüchig.
Doch mit Herz.
Leni saß still daneben.
Hörte zu.
Und legte irgendwann die Schnauze auf das Pedal.
Fast wie eine Geste der Zustimmung.
„Vielleicht wirst du mal Musikerin, Leni“, flüsterte Elsa und spielte weiter.
Nina arbeitete unterdessen von zuhause aus.
Sie richtete sich einen kleinen Arbeitsplatz im alten Esszimmer ein.
Entwarf, zeichnete, telefonierte.
Und jedes Mal, wenn sie zu lange am Bildschirm saß, kam Leni und legte sich auf ihre Füße.
„Ein Bürohund, wie er im Buche steht“, sagte Nina lachend.
Abends kochten sie gemeinsam – einfache Gerichte: Kartoffelsuppe, Grießbrei, Apfelkompott.
Und Elsa begann zu erzählen.
Von Wilhelm.
Von ihrer Jugend in Leipzig.
Von dem Tag, als sie sich verlobt hatten – im Winter, mit klammen Händen und heißen Herzen.
„Ich dachte, ich würde nie wieder so viel fühlen“, sagte Elsa.
„Aber dieses kleine Tier da… hat mir mein Herz zurückgegeben.“
Eines Morgens – Leni war schon draußen im Hof – kam Elsa ins Wohnzimmer und blieb stehen.
Die Tür zur alten Truhe stand offen.
Die, in der Wilhelm seine Fotos aufbewahrt hatte.
Nina saß davor, ein Stapel Schwarzweißbilder auf dem Schoß.
„Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wollte nichts durchwühlen. Ich hab nur… ein Bild gesucht. Von Mama.“
Elsa ging zu ihr, setzte sich langsam.
Sie blätterten gemeinsam.
Gesichter aus einer anderen Zeit.
Verblasste Uniformen, Sommerausflüge, Lachen, das man nicht mehr hören konnte, aber sah.
Dann hielt Nina inne.
„Oma… schau mal.“
Ein Bild, fast vergilbt.
Ein kleines Mädchen – etwa sechs Jahre alt – saß auf einer Decke im Garten.
Daneben: ein Hund.
Nicht Moritz.
Nicht Leni.
Aber dieselbe Stirnzeichnung. Dieselben Augen.
Auf der Rückseite stand: „Nina & Leo, 2002“.
„Ich… hatte doch einen Hund?“, flüsterte Nina.
Elsa nahm das Bild.
Langsam fiel ihr wieder ein:
Kurz nach Ninas Einschulung hatte sie einen Welpen bekommen.
Von einem Nachbarn.
Ein freundlicher Mischling.
Aber nur für wenige Monate.
Dann kam die Trennung. Ein Umzug. Ein Streit um das Sorgerecht.
Leo wurde abgegeben.
Ein stiller, schmerzhafter Schnitt.
„Du hast ihn vergessen“, sagte Elsa.
„Wie Kinder manchmal vergessen, um nicht zu zerbrechen.“
Nina starrte das Bild lange an.
„Und jetzt… ist Leni da.“
Elsa nickte.
„Manche Seelen kommen wieder. Wenn man bereit ist.“
In dieser Nacht schlief Nina schlecht.
Sie ging spät ins Wohnzimmer, wo Leni auf dem Teppich lag.
Sie setzte sich zu ihr, legte eine Hand auf ihr weiches Fell.
„Warst du Leo? Oder bist du einfach du?“, flüsterte sie.
„Egal. Ich hab dich lieb.“
Leni hob den Kopf.
Legte ihn dann in Ninas Schoß.
So saßen sie da.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Und ließen das Herz wieder lernen, wie es schlägt.
Doch in Lenis Augen lag etwas, das tiefer ging – als hätte sie noch einen weiteren Namen, den niemand kannte.