Der Hund am Grab | An ihrem Geburtstag traf sie ihn – den Hund, der ihre ganze Welt veränderte

Teil 7: Spuren im Schnee

Es war Anfang März, als die ersten Krokusse durch den frostigen Boden brachen.
In der Trinitatisstraße roch es noch nach Winter, aber der Wind hatte bereits etwas Neues in sich – ein leises Versprechen.

Elsa stand am Küchenfenster und beobachtete Leni, wie sie mit der Nase durch den matschigen Schnee pflügte.
Jedes Blatt, jeder Stein war für sie eine Entdeckung.
Ein Abenteuer in Miniformat.

„Wenn man dich so sieht“, murmelte Elsa, „könnte man meinen, du bist einfach nur ein junger Hund.“

Doch sie wusste es besser.
Seit Wochen spürte sie es – etwas in Leni war älter als ihre Pfoten vermuten ließen.


Nina arbeitete an einem neuen Projekt.
Ein Umbau einer alten Försterei zu einem generationsübergreifenden Wohnhaus.
„Alt und jung unter einem Dach“, hatte sie gesagt, „mit Gärten, mit Tieren. So wie hier.“

Elsa hatte gelächelt.
„Du hast mehr von mir geerbt, als du glaubst.“

Doch Nina war abgelenkt, seit dem Foto mit Leo.
Immer wieder ging sie in Gedanken zurück.

Was war damals passiert?
Warum hatte sie ihn vergessen?
War Leni… eine Rückkehr?


An einem Sonntag beschloss Nina, der Sache auf den Grund zu gehen.

„Oma, ich fahr morgen nach Großpösna“, sagte sie beim Frühstück.
„Dort haben wir damals gewohnt. Ich will wissen, was mit Leo geschehen ist.“

Elsa nickte.
„Vielleicht findest du Antworten. Oder wenigstens Frieden.“

„Willst du mitkommen?“

„Nein. Ich bleib bei Leni. Einer muss ja hier aufpassen.“


Am nächsten Tag fuhr Nina los.
Die Straße war frei, der Himmel wolkenverhangen.
Zweieinhalb Stunden Autofahrt – allein mit Gedanken, mit leiser Musik, mit dem Geräusch der Reifen auf Asphalt.

Großpösna war kaum verändert.
Ein stilles Dorf am Rand von Leipzig.

Die Häuser alt, die Gärten ungepflegt.
Doch ihr altes Zuhause stand noch.
Ein zweistöckiges Haus mit grünem Zaun, halb abgeblättert.

Sie parkte, stieg aus, betrachtete die Fassade.
Und plötzlich war sie wieder sechs Jahre alt.
Mit einer Brotbüchse in der Hand. Und Leo, der am Zaun wartete.

Sie klopfte beim Nachbarn.
Ein älterer Herr öffnete, stützte sich auf einen Gehstock.

„Entschuldigen Sie… ich bin Nina Meißner. Wir haben früher hier gewohnt…“

Er sah sie lange an.
Dann nickte er langsam.

„Die mit dem kleinen schwarzen Hund. Leo, richtig?“

„Ja… können Sie sich erinnern, was aus ihm wurde?“

Der Mann überlegte.
„Ja. Ich glaube… Ihr Vater hat ihn abgegeben. An einen Kollegen. Aus Dresden. Ein Förster, wenn ich mich recht erinnere.“

„Dresden?“

„Mhm. Der Mann hatte Erfahrung mit Hunden. Leo war ihm gleich nachgelaufen. Ganz ohne Leine. Als hätten sie sich gesucht.“

Nina bedankte sich.
Fuhr zurück – mit einem Namen, einer Stadt und einem Gefühl, das zwischen Trost und Sehnsucht pendelte.


Währenddessen verbrachte Elsa den Nachmittag mit Leni.
Sie las ihr vor – aus einem alten Gedichtband von Rainer Maria Rilke.
Ihre Stimme war weich, fast brüchig, aber bestimmt.

„Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.“

Leni lag zu ihren Füßen, lauschte.
Oder zumindest wirkte es so.

„Ich glaube, du verstehst mehr, als ich je gesagt habe“, flüsterte Elsa.
„Vielleicht sogar mehr als ich selbst.“


Nina kam am frühen Abend zurück.

„Er lebt sicher nicht mehr“, sagte sie beim Abendbrot.
„Aber ich finde es tröstlich, zu wissen, dass er bei jemand Gutem war.“

Elsa legte eine Hand auf ihre.

„Manche Wege kreuzen sich nur kurz. Aber sie hinterlassen Spuren.“


Drei Tage später geschah etwas Seltsames.

Leni bellte.

Nicht schrill. Nicht panisch.
Ein einziges, tiefes, bestimmtes Bellen.

Es war das erste Mal, dass sie überhaupt ihre Stimme erhob.

Elsa saß im Sessel, sah auf.
„Was hast du?“

Leni stand vor der alten Truhe.
Die, in der Wilhelm nicht nur Fotos, sondern auch Notizen aufbewahrt hatte – Zettel mit Beobachtungen, Namen, kleine Erinnerungen.

Elsa stand auf, ging zu ihr.

„Was willst du mir zeigen, Kleine?“

Sie öffnete die Truhe.

Obenauf lag ein zusammengefalteter Zettel, den sie noch nie gesehen hatte.

Sie faltete ihn vorsichtig auf.

„17. März 1985
Heute Nacht geträumt: Moritz II kam zurück.
Als Welpe. Schwarzes Fell, weißer Punkt auf der Stirn.
Er sah mich an, als hätte er nie aufgehört, bei mir zu sein.

Else würde es nicht glauben – aber ich glaube es.“

Elsa starrte auf die Zeilen.
Ihre Hände begannen zu zittern.
Leni legte sich neben sie, schloss die Augen.

„Du warst nicht der Erste“, flüsterte sie.
„Und vielleicht auch nicht der Letzte.“


Am nächsten Tag machte Elsa einen Spaziergang.
Allein.

Sie ging zum Elbufer, setzte sich auf die Bank.
Der Fluss war ruhig. Die Luft kühl.
Vögel sangen, als sei es schon Frühling.

Sie nahm ein kleines Foto aus der Jackentasche.
Moritz, unter der Buche.
Daneben hatte sie mit zittriger Hand ein Wort geschrieben: Danke.

„Du hast mehr getan, als nur da zu sein“, sagte sie leise.
„Du hast mir gezeigt, dass nichts verloren geht. Dass Liebe bleibt.“


Als sie nach Hause kam, lief Leni ihr entgegen.
Hüpfend. Freudig.

Aber plötzlich blieb sie stehen.
Verharrte.

Und Elsa sah es auch:
Ein Mann stand am Gartenzaun.

Alt. Schlank. Ein wenig gebeugt.
Mit einem braunen Mantel und einem Gesicht, das vertraut schien und doch fremd.

„Verzeihung“, sagte er. „Ich suche Frau Meißner.“

„Das bin ich.“

„Ich… war Förster. In Dresden. Vor langer Zeit. Ich hatte einen Hund. Leo. Ich hab ihn aus Großpösna geholt. Er war… besonders. Und gestern Nacht hab ich von ihm geträumt. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren.“

Elsa trat näher.

„Was war in dem Traum?“

Der Mann sah Leni an.
Dann flüsterte er:
„Er kam zurück. In anderer Gestalt. Und sagte: ‘Ich bin noch da.’“


Und als Leni dem alten Mann die Schnauze in die Hand legte, erkannte er es – und flüsterte erschüttert: „Leo…“

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