Teil 8: Die Rückkehr
Der alte Förster stand still, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen genommen.
Seine Hand zitterte leicht, doch Leni hielt sie fest – ruhig, entschlossen, mit jener natürlichen Würde, die kein Welpe und kein gewöhnlicher Hund besaß.
„Leo…“, wiederholte er, kaum hörbar.
„Mein Gott. Es kann doch nicht sein.“
Elsa trat näher.
„Bitte kommen Sie rein“, sagte sie.
„Ich glaube, wir haben beide etwas zu erzählen.“
Der Mann – er stellte sich als Friedrich Bauer vor – nahm langsam die Einladung an.
Sein Gang war vorsichtig, aber in seinen Augen lag eine merkwürdige Klarheit.
Wie bei jemandem, der gerade einem alten Geist begegnet ist – und ihn doch willkommen heißt.
In der warmen Stube setzte sich Friedrich auf den alten Stuhl am Fenster.
Leni legte sich zu seinen Füßen. Kein Bellen, kein Winseln.
Nur diese Stille.
Diese Art von Schweigen, die mehr sagte als jede Sprache.
„Ich war 48, als ich Leo bekam“, begann Friedrich.
„Ein Nachbarsmädchen – Nina, so hieß sie wohl – musste ihn abgeben. Ihr Vater brachte ihn zu mir. Ich lebte allein. Keine Familie, keine Kinder. Nur die Bäume. Und dann kam Leo.“
Er lächelte, blinzelte gegen das Licht.
„Er war mehr als ein Hund. Er kannte Wege, bevor ich sie ihm zeigte. Er legte sich neben mich, wenn ich krank war. Lief nicht weg, wenn ich weinte.“
Elsa hörte zu.
Schweigend, mit gefalteten Händen.
„Er starb 1998. Still, wie er gelebt hatte. Ich hab ihn unter einer Linde beerdigt. Und… ich habe nie wieder einen Hund gewollt.“
Friedrich beugte sich hinunter, streichelte Leni über den Kopf.
„Und jetzt liegt er hier. Anders. Aber da.“
Nina kam wenig später zurück aus der Stadt.
Sie sah den alten Mann, sah Leni – und blieb in der Tür stehen.
„Wer ist das?“, fragte sie.
Elsa stand auf.
„Das… ist Friedrich Bauer. Der Mann, der Leo nach dir aufgenommen hat.“
Ein Moment verging.
Dann trat Nina langsam näher.
„Sie haben ihn also gekannt…“, flüsterte sie.
Friedrich sah sie lange an.
„Sie sind Nina? Das Mädchen mit dem roten Kleid und dem Hund auf der Decke?“
Sie nickte.
Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Ich dachte, ich hätte ihn vergessen.“
Friedrich schüttelte den Kopf.
„Man vergisst nie. Man schützt nur das Herz, wenn es zu weh tut.“
In den nächsten Stunden erzählten sie sich alles.
Die Jahre mit Leo.
Die Einsamkeit.
Die Erinnerung.
Und Elsa zeigte Friedrich das Bild aus der Truhe – Wilhelms Notiz über den Traum von „Moritz II“.
Der Förster las es schweigend.
Dann sah er Leni an.
„Drei Leben“, sagte er. „Drei Menschen. Ein Hund. Und eine Seele.“
Später saßen sie zu viert beim Abendessen – Friedrich, Elsa, Nina, und Leni, die ein Stück gedünstete Karotte vor sich auf dem Boden ignorierte.
„Wissen Sie“, sagte Friedrich, „vielleicht klingt das alles verrückt. Aber ich bin nicht mehr jung genug, um nicht an Wunder zu glauben.“
Elsa nickte.
„Ich glaube, das ist das Geschenk des Alters. Man hört auf, alles erklären zu wollen.“
Nina lächelte.
„Und beginnt, zu spüren.“
Nach dem Essen verabschiedete sich Friedrich.
„Ich komme wieder. Wenn Sie mich lassen“, sagte er.
„Immer“, sagte Elsa.
Nina brachte ihn zur Tür.
„Er wird dich erkennen“, flüsterte Friedrich, bevor er ging.
„Immer. Solange du ihn brauchst.“
In den folgenden Wochen wurde der Frühling lauter.
Leni tobte durch den Hof, bellte den Regenbogen an, der sich über den Dächern spannte, grub Löcher im Garten, in denen Nina später Rosen pflanzen wollte.
Doch Elsa wusste – unter all dem Welpensein war sie wachsam.
Und anders.
Sie hatte begonnen, zu zeichnen.
Nicht mit Stift – sondern mit ihrer Präsenz.
Sie „zeichnete“ Wege im Haus, wartete an Türschwellen, stand morgens vor dem Ofen, noch bevor Elsa ihn angezündet hatte.
„Sie erinnert sich an Dinge, die sie nie erlebt haben kann“, murmelte Elsa eines Morgens.
Im April fuhr Nina zurück nach Köln – nur für zwei Wochen.
„Ich muss etwas vorbereiten“, sagte sie.
„Aber dann… will ich zurückkommen. Richtig. Ganz.“
Elsa nickte.
„Du hast hier ein Zuhause. Mehr als eines.“
Leni suchte tagelang nach Nina, saß oft vor dem Gästezimmer, winselte nicht, aber wartete.
Am fünften Abend nahm Elsa sie auf den Schoß.
„Du wirst sie bald wiedersehen“, flüsterte sie.
„Du musst ihr nur glauben. So wie du Wilhelm geglaubt hast. Und mir. Und Friedrich.“
Leni schloss die Augen.
Und Elsa glaubte, sie verstand.
Eine Woche später kam ein Brief von Friedrich.
„Liebe Else,
vielleicht ist es an der Zeit, dass auch ich wieder lerne zu leben. Ich habe den Försterhof verkauft. Ich ziehe in die Nähe. Vielleicht nach Meißen. In eine kleine Wohnung. Mit Balkon – und Blick auf die Elbe.
Wenn Sie Gesellschaft brauchen… ich bin da.
Ihr Friedrich“
Elsa hielt den Brief lange in den Händen.
Dann legte sie ihn neben Wilhelms alten Füller.
Und flüsterte:
„Ich danke dir, Wilhelm. Für alles.“
Als Nina zurückkam, war es ein milder, goldener Tag.
Leni rannte ihr bis ans Gartentor entgegen, sprang nicht, bellte nicht – sie stellte sich einfach vor sie.
Still. Fest.
Wie eine Wache, die ihr Ziel endlich wieder gefunden hat.
„Da bist du ja“, sagte Nina.
Und Elsa dachte:
Vielleicht, nur vielleicht, war das Leben manchmal ein Kreis.
Aber einer, der sich nach oben schraubte.
In neue Höhen.
Mit alten Seelen.
Und in dieser Nacht, als alle schliefen, saß Leni am Fenster – und schien zu warten… auf jemanden, den nur sie kannte.