Teil 9: Der Kreis schließt sich
Der Mai kam früh und warm.
Die Apfelbäume entlang der Trinitatisstraße standen in voller Blüte, und selbst die alten Fensterrahmen von Elsas Wohnung schienen das Licht besser zu halten.
Ein süßer Duft lag in der Luft, gemischt mit dem Rascheln junger Blätter und dem leisen Summen der ersten Bienen.
Elsa saß auf der Bank im Innenhof, ein Strohhut auf dem Kopf, ein altes Radiogerät neben sich.
Daraus klang eine Aufnahme von Hildegard Knef: „Für mich soll’s rote Rosen regnen.“
Leni lag ihr zu Füßen.
Doch sie war unruhig.
Immer wieder hob sie den Kopf, schnupperte in den Wind, sah zur Gartentür.
So, als erwarte sie etwas. Oder jemanden.
„Du hast ihn gespürt, nicht wahr?“, flüsterte Elsa.
Friedrich kam am späten Nachmittag.
Nicht angekündigt – aber irgendwie erwartet.
Er trug ein helles Hemd, hatte sich den Bart gestutzt und eine kleine Schachtel in der Hand.
Leni lief ihm sofort entgegen, blieb einen halben Meter vor ihm stehen und sah ihn an.
„Ich hab dich nicht vergessen“, sagte Friedrich.
„Nicht in all den Jahren. Und ich weiß jetzt: Du mich auch nicht.“
Er kniete sich hin, streckte langsam die Hand aus.
Leni kam näher, legte ihre Stirn ganz leicht gegen seine Handfläche.
Elsa sah es – und sah dabei Wilhelm.
Wie er damals Moritz das erste Mal begrüßt hatte.
Die gleiche Geste. Die gleiche Ruhe. Die gleiche Verbindung.
Sie tranken Kaffee auf der Terrasse.
Friedrich sprach nicht viel.
Aber das musste er auch nicht.
Er überreichte Elsa schließlich die kleine Schachtel.
„Ein alter Schlüssel“, sagte er.
„Zum Stall am Försterhof. Ich dachte, vielleicht fahrt ihr mal mit Leni hin. Nur zum Schauen. Er steht leer, aber er gehört mir noch bis Monatsende.“
Elsa nahm den Schlüssel.
Er war rostig, schwer, und fühlte sich trotzdem richtig an.
„Danke“, sagte sie.
Am nächsten Tag schlug Nina vor, einen Ausflug zu machen.
„Ich hab ein paar Tage frei. Warum nicht in den Wald? Wir nehmen Leni mit. Und dich.“
Elsa zögerte.
„Ich weiß nicht… das ist weit.“
„Dann bleiben wir über Nacht. Ich buche ein Gasthaus. Wir müssen es nicht eilig haben.“
Leni stand im Flur, als hätte sie jedes Wort verstanden.
„Schau sie dir an“, sagte Nina.
„Sie will dahin. Unbedingt.“
Elsa streichelte Leni über den Kopf.
„Dann soll es so sein.“
Zwei Tage später fuhren sie los.
Ein kleiner Wagen, drei Menschen, ein Hund – und eine Geschichte, die keiner ganz fassen konnte, aber jeder fühlte.
Der Weg führte sie durch Wälder, über Felder, vorbei an kleinen Dörfern mit Namen, die Elsa seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte: Bärenfels, Schmiedeberg, Rabenau.
Am späten Nachmittag kamen sie an.
Der Försterhof war verwachsen, aber nicht vergessen.
Die Fensterläden hingen schief, der Brunnen war trocken.
Aber in der Luft lag etwas – ein Echo.
Ein Flüstern aus alter Zeit.
Elsa blieb lange im Wagen sitzen.
„Alles gut, Oma?“, fragte Nina leise.
„Ich habe Angst“, flüsterte sie.
„Nicht vor dem Ort. Sondern davor, was ich dort fühlen werde.“
Leni sprang aus dem Auto, stellte sich auf die Schwelle des Tores – und wartete.
Der Stall war hinten am Grundstück.
Niedrig, aus Stein, mit einem Holzdach, das an einigen Stellen eingebrochen war.
Elsa trat langsam ein.
Es roch nach feuchtem Holz und alter Erde.
An der hinteren Wand war noch ein altes Halsband befestigt.
Ein Napf stand daneben – staubig, aber unversehrt.
Daneben lag… ein Ball.
Rot. Zerbissen.
Doch eindeutig: ein Hundespielzeug.
Leni ging sofort darauf zu.
Schnupperte.
Setzte sich.
Und sah Elsa an.
„Du kennst das“, flüsterte Elsa.
„Du warst hier.“
In dieser Nacht blieben sie in einem kleinen Gästehaus am Waldrand.
Nina schlief sofort ein, erschöpft vom Fahren.
Elsa aber saß noch lange am Fenster.
Leni lag auf dem kleinen Teppich, döste, hob hin und wieder die Ohren.
„Weißt du, was ich glaube?“, sagte Elsa leise.
„Dass ihr nicht einfach wiederkommt. Sondern dass ihr da bleibt, wo wir euch brauchen.“
Sie schloss die Augen.
„Moritz. Leo. Und du – vielleicht seid ihr nie ganz gegangen.“
Draußen raschelte der Wind durch die Äste.
Und für einen Moment – nur einen Herzschlag lang – glaubte Elsa, Schritte zu hören.
Langsam. Schwer.
Wie Wilhelm, wenn er vom Dienst kam.
Am nächsten Morgen war die Luft frisch und klar.
Sie frühstückten im Garten, während Leni mit einem kleinen Vogel im Gebüsch spielte – nicht jagte, nur begleitete.
„Ich hab heute Nacht geträumt“, sagte Nina.
„Von Mama. Und Leo. Sie standen zusammen unter einem Baum.“
„Haben sie gesprochen?“, fragte Elsa.
„Nein. Aber sie haben gelächelt. Und dann ist Mama weggegangen – und Leo ist geblieben.“
Elsa nahm ihre Hand.
„Vielleicht, weil du ihn noch brauchst.“
Bevor sie zurück nach Meißen fuhren, gingen sie noch einmal gemeinsam zum Stall.
Elsa stellte den alten Napf gerade.
Leni legte sich kurz an dieselbe Stelle, an der einst Leo gelegen hatte.
Dann standen sie alle schweigend im Eingang.
Nina sagte leise:
„Was jetzt?“
Elsa sah sie an.
„Jetzt fahren wir heim. Und leben weiter. Mit dem Wissen, dass es keine Zufälle gibt.“
Am Abend, zurück in der Trinitatisstraße, stand ein Umschlag im Briefkasten.
Kein Absender. Wieder.
Innen lag ein einzelnes Blatt Papier.
Handgeschrieben, aber die Schrift war fremd.
„Wer liebt, verliert nie.
Denn Liebe sucht sich ihre Form.
Manchmal ist es ein Mensch.
Manchmal ein Tier.
Manchmal nur ein Gefühl.
Aber sie bleibt.
Immer.“
Elsa faltete das Blatt sorgfältig, legte es zu Wilhelms Brief.
Dann ging sie in die Küche, wo Leni unter dem Tisch lag.
Sie kraulte sie hinter den Ohren.
„Ich weiß, wer du bist. Nicht mit dem Kopf – aber mit dem Herzen.“
Leni sah sie an.
Lange.
Still.
Und tief in Elsas Brust begann etwas zu schlagen, das sie längst verloren geglaubt hatte – ein neuer Anfang.