Teil 10: Ein Platz, der bleibt
Der Sommer kam langsam über Meißen.
Die Stadt erwachte mit dem Duft nach Lindenblüten, warmem Stein und nassem Asphalt nach kurzen Gewittern.
Elsa Meißner öffnete morgens die Fenster weit, ließ das Licht in ihre kleine Wohnung fluten – und hörte auf den Klang eines neuen Alltags.
Nicht laut.
Aber lebendig.
Leni war mittlerweile Teil dieses Lebens geworden wie der alte Holzstuhl in der Küche oder das Foto von Wilhelm auf der Kommode.
Sie war nicht mehr das tapsige Fellknäuel aus dem Februar.
Etwas in ihr war gewachsen.
Nicht nur der Körper.
Etwas Tieferes.
Ruhiger. Wacher.
An einem frühen Julimorgen, als die Sonne noch tief stand, ging Elsa zum Friedhof.
Allein.
Nicht aus Traurigkeit – sondern aus Dankbarkeit.
Sie trug den Strohhut, den Wilhelm ihr einmal aus Italien mitgebracht hatte.
In der Hand: eine einzelne Rose.
Weinrot. Voll erblüht.
Moritz lag dort, unter dem gleichen Baum wie Wilhelm.
Sie hatte ihn im Frühjahr umbetten lassen.
„Es gehört sich so“, hatte sie gesagt. „Er hat mein Herz getragen. Er soll in der Nähe bleiben.“
Elsa kniete sich nieder.
Leni blieb ein paar Schritte entfernt, setzte sich still in den Schatten.
„Ich habe verstanden“, flüsterte Elsa.
„Dass Liebe nicht vergeht.
Und dass selbst der Tod nur eine Pause ist – kein Ende.“
Sie legte die Rose auf den kleinen, schlichten Stein.
Daneben eine Kieselspur, die Nina gelegt hatte – wie Pfotenabdrücke, die vom Wald zum Grab führten.
In den folgenden Tagen bereitete Nina den Umzug vor.
Die Wohnung in Köln war gekündigt.
Ein kleines Architekturbüro in Dresden hatte ihr ein Angebot gemacht – flexibel, teilzeit, mit eigenem Projektbereich.
„Ich bleib in der Nähe“, sagte sie.
„Und Leni kommt natürlich mit. Ich will, dass sie in meiner Familie alt wird.“
Elsa nickte.
„Du wirst gebraucht. Und nicht nur von ihr.“
Sie packten Kisten, tranken abends Tee auf dem Balkon, planten Beete und ein neues Gartentor.
Einmal sagte Nina:
„Weißt du, ich glaub, wir haben alle jemand oder etwas, das uns durchs Leben trägt.
Für manche ist es Musik. Für andere ein Mensch. Für mich war es ein Hund – den ich fast vergessen hätte.“
Am 21. Juli – einem Freitag – geschah das Unerwartete.
Elsa hatte gebacken. Pflaumenkuchen.
Sie stellte ihn auf das Fensterbrett zum Abkühlen, summte eine alte Melodie aus Kindertagen.
Leni lag auf dem Teppich, döste.
Dann, plötzlich, stand sie auf.
Langsam.
Zielstrebig.
Sie ging zur Tür, legte sich davor.
„Was ist los?“, fragte Elsa.
Keine Antwort. Natürlich nicht.
Nur ein Blick.
Ein Blick, der sagte: Warte.
Es dauerte keine fünf Minuten, da klopfte es.
Leise. Zwei Mal. Dann Pause. Dann noch einmal.
Elsa öffnete.
Davor stand ein Mädchen. Vielleicht zwölf. Dünn, mit großen Augen. Ein Rucksack auf dem Rücken.
„Entschuldigung… wohnen Sie bei Frau Meißner?“
„Ich bin Frau Meißner.“
„Mein Name ist Sophie. Ich… ich hab Ihren Hund gesehen. In einem Traum. Immer wieder. Und heute bin ich einfach losgelaufen.“
Elsa sah sie an, ohne zu sprechen.
Leni trat vor.
Blinzelte.
Dann… ging sie auf das Mädchen zu.
Vorsichtig.
Setzte sich.
Sophie streckte die Hand aus.
Berührte die Stirn.
Genau dort, wo der weiße Fleck war.
„Ich kenn dich“, sagte sie.
Im Wohnzimmer erzählte das Mädchen, dass ihre Großmutter vor Kurzem gestorben war.
Dass sie in Pflege lebte.
Dass sie immer wieder denselben Traum hatte:
Ein schwarzer Hund mit weißen Pfoten.
Ein alter Baum.
Und ein Name: Moritz.
„Ich weiß nicht, warum. Aber ich musste kommen. Und dann hab ich den Weg hierher gefunden.“
Elsa nickte.
Langsam.
Verstanden.
„Willst du was essen, Sophie?“, fragte sie.
„Nur, wenn ich bleiben darf.“
„So lange du willst.“
In den nächsten Wochen geschah alles wie von selbst.
Sophie kam fast täglich.
Sie half im Garten, las mit Elsa Gedichte, ging mit Leni spazieren.
Nina begann, mit einem Jugendzentrum zu kooperieren – und lud Sophie ein, an einem Zeichenkurs teilzunehmen.
„Sie hat Talent“, sagte sie.
„Und sie hat eine Verbindung zu Leni, die ich nicht erklären kann.“
Elsa lächelte.
„Manche Fäden werden neu geknüpft, obwohl sie nie ganz gerissen waren.“
Im August fuhren sie alle zusammen an die Elbe.
Ein Picknick.
Leni rannte durch das flache Wasser, Sophie warf ihr Stöckchen, Nina las aus einem Buch, Elsa döste auf einer Decke in der Sonne.
„Wenn ich sterbe“, sagte Elsa leise, „dann hier.
Unter dem Apfelbaum.
Mit dem Blick auf den Fluss.
Und mit dem Gefühl, dass alles gut war.“
Nina legte ihre Hand auf ihre.
„Aber noch nicht.
Noch brauchst du uns.
Und wir dich.“
In jener Nacht – warm, still, voller Sommerduft – saß Elsa lange auf dem Balkon.
Leni lag zu ihren Füßen.
Sophie schlief im Gästezimmer, ein Buch unter dem Kopf.
Nina las im Wohnzimmer bei offenem Fenster.
Der Himmel war klar.
Ein Sternschnuppenschwarm zog über das Firmament.
Elsa wünschte sich nichts.
Sie musste nichts mehr wünschen.
Alles, was zählte, war da.
Ein Platz.
Ein Herz.
Ein Hund.
Und eine Geschichte, die nicht endet – sondern weitergetragen wird.
Am nächsten Morgen fand Sophie auf dem Küchentisch einen Zettel.
„Liebe Sophie,
du bist gekommen, weil du gerufen wurdest.
Nicht von mir. Nicht von Nina.
Sondern von ihm – und vielleicht von etwas noch Größerem.Wenn meine Zeit kommt, wirst du wissen, was zu tun ist.
Bis dahin: Lebe. Wachse. Und höre auf dein Herz.Deine Elsa.“
Und so blieb Leni – nicht als Erinnerung, sondern als Begleiterin.
Von Elsa, von Nina, von Sophie.
Drei Frauen. Drei Generationen.
Verbunden durch ein Wesen, das kein Mensch je ganz verstehen konnte.
Ein Hund, der blieb, wenn andere gingen.
Der zurückkam, wenn die Welt zu leise wurde.
Und der lehrte, dass Liebe kein Ende kennt.
Nur neue Formen.