Der Hund auf dem Balkon | Er war einsam, alt und unbeweglich bis ein namenloser Hund alles veränderte

🐾 Teil 4: Die Narbe

Es war nur ein kurzer Moment.
Ein Windstoß hob das Fell ein wenig an.
Und da war sie, eine dünne, helle Linie über Fridos linker Flanke.
Vielleicht fünf Zentimeter lang, fast gerade, wie mit einem Messer gezogen.

Erwin beugte sich näher, strich vorsichtig mit den Fingern darüber.
Frido zuckte nicht. Er ließ es geschehen, sah ihn nur an. Ruhig. Fast ergeben.

Erwin fühlte einen Stich im Magen.
Diese Narbe war kein Zufall. Kein Kratzer vom Spiel.
Das war etwas anderes. Etwas Altes. Vielleicht etwas Schmerzhaftes.

„Wo kommst du wirklich her?“, murmelte er leise.
Frido senkte den Kopf und legte sich wieder zu seinen Füßen, als hätte er verstanden.

**

Nach dem Hoffest zog wieder Ruhe ein ins Haus.
Aber in Erwin wuchs eine Unruhe.
Eine, die er nicht abschütteln konnte.

Er konnte diese Narbe nicht vergessen.
Nicht den Blick, den Frido ihm zugeworfen hatte.
Nicht das Gefühl, dass dieser Hund etwas hinter sich hatte, das mehr war als nur ein verregneter Tag auf einem Balkon.

Er rief Jasmin.
Sie kam am Nachmittag mit Leon vorbei.

„Die Narbe?“, wiederholte sie, nachdem er es ihr gezeigt hatte.
„Hm. Ich hatte sie gar nicht bemerkt.“

„Es sieht… wie eine alte OP aus“, sagte Erwin.
„Oder schlimmer.“

Leon hockte sich neben Frido.
„Vielleicht war er mal bei jemandem, der ihm wehgetan hat.“

Niemand sagte etwas.
Das Wort Misshandlung schwebte im Raum, unausgesprochen, aber spürbar.

**

Am nächsten Morgen brachte Sami einen kleinen USB-Stick mit.

„Ich hab mal recherchiert“, sagte er.
„Hab ein paar Datenbanken von Tierschutzvereinen durchsucht. Manchmal gibt’s da vermisste oder gefundene Tiere mit Merkmalen.“

Erwin steckte den Stick in das alte Notebook, das Sami ihm geliehen hatte.
Die Internetverbindung war langsam, die Seite altmodisch.
Aber da war etwas.
Ein Eintrag vom April.
Ein Terrier-Mix, schwarzgrau, männlich, mit Narbe an der linken Flanke.

Gefunden? Nein.
Vermisst.

Name: Rico
Besitzerin: Lisa Hennemann, 78 Jahre, wohnhaft in Bottrop.
Letzter Eintrag: Hund entlaufen nach Einbruch, vermutlich durch Schock weggelaufen.

Erwin las den Text dreimal.
Dann sah er zu Frido.
Oder Rico?

Der Hund saß ganz ruhig neben ihm.
Als wartete er auf ein Urteil.

**

Am Abend konnte Erwin nicht schlafen.
Das Licht war aus, aber in seinem Kopf ratterten Gedanken.
Was, wenn Frido wirklich Rico war?
Was, wenn da draußen eine Frau lebte, die ihn vermisste?
Eine Frau, so alt wie er. Vielleicht allein. Vielleicht verzweifelt.

Er drehte sich zur Seite.
Frido lag in seinem Körbchen, sah ihn an, den Kopf leicht geneigt.
Dann stand er auf, kam langsam zum Bett und legte die Schnauze auf Erwins Decke.

Erwin streichelte ihn.
Lange.
Ohne zu sprechen.

**

Am nächsten Tag bat er Sami, den Kontakt herzustellen.

Sami schrieb eine E-Mail an die angegebene Adresse. Kurz, sachlich, aber mit einem Foto von Frido. Erwin saß daneben, die Hände auf den Knien, die Schultern gesenkt.

Eine Antwort kam schneller als erwartet.
Schon am Nachmittag.

„Guten Tag. Ich bin Lisas Tochter. Meine Mutter lebt seit dem Vorfall in einem Pflegeheim. Sie spricht wenig. Aber jeden Tag fragt sie: ‘Wo ist Rico?’ Ich zeige ihr sofort das Bild. Bitte rufen Sie mich an.“

Erwin starrte auf den Bildschirm.
Er spürte, wie ihm die Kehle eng wurde.
Er hatte Angst.

**

Am Abend saßen sie zu viert am Küchentisch.
Erwin, Jasmin, Sami und Leon.

Der Laptop stand offen, die Kamera aktiviert.
Auf dem Bildschirm erschien eine Frau mit müden Augen und grauen Strähnen im Haar.
Neben ihr, im Rollstuhl, eine alte Frau, schmal, mit zittrigen Händen.

Als Frido auf dem Bildschirm erschien, passierte es.
Die alte Frau hob den Kopf.
Ihre Augen wurden groß.
Ihre Lippen formten ein Wort.
„Rico…“

Sie begann zu weinen.
Leise.
Dann lauter.

Frido bellte plötzlich. Ein kurzes, helles Bellen, wie ein Wiedererkennen.
Dann sprang er auf den Schoß von Erwin und bellte noch einmal.

Die Frau auf dem Bildschirm flüsterte: „Mein Junge… du lebst.“

**

Niemand sprach.
Nicht Jasmin.
Nicht Sami.
Nicht einmal Leon.

Erwin streichelte Fridos Rücken.
Der Hund zitterte leicht, aber wich nicht zurück.

Die Tochter sagte leise:
„Wir wohnen in Bottrop. Nicht weit von Ihnen. Vielleicht… könnten wir ihn mal besuchen kommen? Nur kurz.“

Erwin nickte langsam.
„Natürlich.“

**

Nach dem Gespräch war es still.

Jasmin verabschiedete sich mit einem langen Blick.
Sami ging wortlos.
Leon winkte noch einmal zum Abschied.

Erwin und Frido blieben allein.

Er saß am Fenster, die Hand auf dem Kopf des Hundes.
Draußen zogen Wolken auf.
Es roch nach Regen.

Erwin flüsterte:
„Wenn du gehen willst, sag es mir.“

Frido schloss die Augen.

**

Zwei Tage später stand ein Auto vor dem Haus.
Ein silberner Kombi.
Daraus stieg die Tochter. Und Lisa, im Rollstuhl, mit Decke auf den Knien, zwei Pflegekräfte an ihrer Seite.

Jasmin kam hoch, half Erwin nach unten.
Zum ersten Mal seit Jahren verließ er ohne Angst das Haus.

Im Innenhof stellte man die Rollstühle gegenüber.
Keiner sprach zuerst.

Dann ging Frido langsam auf Lisa zu.
Er blieb stehen.
Schaute sie an.
Dann legte er den Kopf auf ihren Schoß.

Lisa schloss die Augen.
Ihre Lippen bewegten sich.
Niemand verstand die Worte.
Aber alle verstanden die Geste.

**

Später fragte die Tochter:
„Er scheint sich bei Ihnen wohlzufühlen. Wenn es für Sie okay ist, könnten wir ihn manchmal besuchen. Oder… ihn bei Ihnen lassen. Meine Mutter wird bald nicht mehr viel mitbekommen.“

Erwin sah sie lange an.
Dann auf Frido.
Dann wieder zu Lisa.

Er sagte:
„Er gehört zu Ihnen.
Aber er ist auch bei mir zuhause.“

**

Und in diesem Moment begriff Erwin, man kann einen Hund verlieren, aber nicht die Liebe, die er bringt.

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