🐾 Teil 8: Die Stimme aus der Vergangenheit
Erwin saß gerade am Küchentisch, der Tee dampfte noch, als das Telefon klingelte.
Nicht das Handy von Sami oder Jasmin, sondern das alte Festnetztelefon mit der großen Wähltaste, das seit Jahren kaum noch benutzt wurde.
Er zögerte kurz, hob dann ab.
„Möller.“
Am anderen Ende war Stille.
Dann eine Stimme, rau, tiefer als in seiner Erinnerung, aber unverkennbar.
„Erwin? Hier ist Paul.“
Der Löffel in seiner Hand fiel auf den Tisch.
Er zitterte.
Paul.
Sein Bruder.
Sie hatten seit über zwanzig Jahren nicht gesprochen.
**
Die Vergangenheit kam wie eine Welle.
Zwei Jungen im Schrebergarten ihres Vaters.
Ein alter Hund namens Mücke, der immer zwischen ihnen lief.
Ein Streit. Dann Funkstille.
Erwin hatte irgendwann aufgehört, zu hoffen.
Er war sicher gewesen, dass Paul ihn vergessen hatte.
Oder schlimmer – nicht mehr wollte.
„Wie… warum rufst du an?“, brachte er mühsam hervor.
Am anderen Ende ein kurzes Husten.
„Ich hab den Artikel gelesen. Über dich. Und den Hund.“
Wieder Stille.
Dann:
„Ich war ein Idiot.“
Erwin schluckte.
„Ich auch“, sagte er leise.
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Sie sprachen lange.
Über früher. Über ihre Eltern.
Über den Streit, der keiner hätte sein müssen.
Und schließlich über Frido.
Paul fragte, ob er ihn mal besuchen dürfe.
„Ich wohn nicht weit weg. Haltern am See. Mit dem Zug bin ich in einer Stunde bei dir.“
Erwin schaute zu Frido, der auf seinem Platz döste, als sei nichts besonderes passiert.
Dann nickte er, obwohl Paul es nicht sehen konnte.
„Komm.“
**
Zwei Tage später stand Paul vor der Tür.
Graue Haare, Bauchansatz, aber dieselben blauen Augen wie früher.
In der Hand ein kleines Paket mit alten Fotos.
Erwin saß im Rollstuhl, zögerte einen Moment, dann lächelte.
Paul trat näher.
Sie umarmten sich, stockend, vorsichtig, wie Männer, die es nicht gewohnt sind.
Frido stand dazwischen, schnüffelte an Pauls Bein, bellte einmal leise.
Dann schien er zu entscheiden: Dieser Mensch darf bleiben.
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Der Nachmittag verging wie im Flug.
Sie schauten Fotos an, das Sommerzelt 1964, die Mutter im Gartenstuhl, der Vater mit Grillzange.
„Und das hier war Mücke“, sagte Paul und hielt ein verblasstes Bild hoch.
Der alte Hund, grau und zottelig, stand zwischen zwei Kindern, wie ein Wächter der Kindheit.
Erwin spürte einen Kloß im Hals.
„Frido ist ganz anders“, murmelte er.
„Und doch… irgendwie nicht.“
**
Am Abend saßen sie auf dem Balkon.
Frido lag zu ihren Füßen.
Die Sonne senkte sich langsam hinter die Dächer von Buer.
Paul nahm einen Schluck aus der Tasse.
„Weißt du, ich hab immer gedacht, du hättest mich vergessen.“
„Ich dachte dasselbe“, antwortete Erwin.
„Wie dumm wir waren.“
Sie lachten leise.
Dann sahen sie lange einfach nur in den Himmel.
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In den Wochen danach kam Paul öfter.
Manchmal blieb er über Nacht auf der alten Couch.
Er half Erwin mit Dingen, die sonst Jasmin oder Sami erledigten.
Trug die Einkäufe, wechselte Glühbirnen, ging mit Frido Gassi.
Erwin fühlte sich leicht.
Nicht wie neu.
Aber wie angekommen.
Eines Tages saßen sie wieder in der Küche, als Paul plötzlich sagte:
„Ich überlege, ob ich nach Gelsenkirchen ziehe. Näher bei dir. Vielleicht in die kleine Wohnung im zweiten Stock, die gerade leersteht.“
Erwin sah ihn lange an.
Dann nickte er.
„Wär schön.“
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Auch Frido schien zufrieden.
Er sprang Paul inzwischen fast jeden Morgen entgegen.
Als würde er wissen: Diese beiden Männer gehören zusammen.
Wie Brüder.
Wie einst.
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Am 24. Dezember, einem kalten, aber klaren Tag, geschah etwas Unerwartetes.
Erwin wurde mit Frido im Rollstuhl in die Stadtbibliothek eingeladen.
Ein kleines Weihnachtsprogramm der Stadt – sie wollten ihn ehren.
„Für Mut. Für Herz. Für Gemeinschaft“, hieß es in der Einladung.
Zögernd nahm er an.
Mit Paul an seiner Seite fühlte er sich stark genug.
In der Bibliothek saßen über fünfzig Menschen.
Jasmin war da, Sami, Leon mit Nikolausmütze.
Sogar Lisa wurde gebracht, eingehüllt in eine dicke Decke.
Der Bürgermeister sprach.
Er erwähnte Frido, sprach von Hoffnung, von Zusammenhalt.
Dann wurde Erwin auf die Bühne gebeten.
Er sagte nicht viel.
Nur:
„Ich hatte mich selbst verloren.
Und dieser Hund hat mich wiedergefunden.
Ich danke ihm. Und euch.“
Der Applaus war lang.
Aber Frido bellte nur einmal, kurz und stolz.
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Nach der Feier brachte Sami ein Geschenk.
Ein Umschlag.
Darin: ein Zertifikat.
„Ehrenamtlicher Pate für Tiere in Not – Stadt Gelsenkirchen“
Erwin lachte.
Dann weinte er.
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An diesem Abend saßen sie zu dritt am Küchentisch.
Erwin, Paul und Frido.
Kerzen brannten, draußen fiel der erste Schnee.
Paul schnitt das Brot, Erwin fütterte Frido einen kleinen Happen.
Dann stießen sie an – mit Apfelschorle und stillem Wasser.
„Auf das Leben“, sagte Paul.
„Und auf zweite Chancen“, antwortete Erwin.
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Frido lag später zwischen ihnen auf dem Teppich, schnarchte leise.
Der Ofen knackte.
Und Erwin wusste: Er war nicht mehr allein.
Nicht in dieser Wohnung.
Nicht in dieser Welt.
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Doch als der Schnee fiel, brachte der Briefträger einen Umschlag, der alles noch einmal verändern sollte.