Der Hund auf dem Balkon | Er war einsam, alt und unbeweglich bis ein namenloser Hund alles veränderte

🐾 Teil 9: Der letzte Wunsch

Der Briefträger hatte rote Ohren vom Wind.
Er drückte Erwin den Umschlag in die Hand, lächelte kurz und stapfte dann weiter durch den Schnee.

Der Umschlag war schwerer als üblich.
Vorne stand sein Name in schwungvoller Handschrift, die Erwin nicht kannte.

Er zog sich ins Wohnzimmer zurück, Frido trottete hinterher.
Paul war noch beim Einkaufen.
Draußen rieselten dicke Flocken, und das Licht war grau und sanft.

Erwin öffnete den Umschlag.
Darin: ein handgeschriebener Brief und ein kleiner Schlüssel.

Er begann zu lesen.

„Sehr geehrter Herr Möller,
mein Name ist Anne Hennemann. Ich bin die Enkelin von Lisa. Vielleicht erinnern Sie sich an mich, wir haben uns nie persönlich getroffen, aber ich habe Ihre Geschichte verfolgt. Meine Großmutter ist vor drei Tagen friedlich eingeschlafen. Sie war nicht allein. Und sie hat bis zum Schluss von Rico gesprochen.“**

Erwin schluckte.
Seine Hände zitterten leicht.

„In ihrem Nachlass befand sich eine kleine Holzkiste mit einem Zettel, auf dem stand:
‚Für den Mann mit dem Balkon und dem großen Herz.‘
Der Schlüssel in diesem Umschlag gehört zu dieser Kiste. Ich habe sie Ihnen geschickt, sie müsste morgen bei Ihnen ankommen.
Meine Großmutter bat mich, Ihnen zu sagen, dass Rico – oder Frido – nie einem Menschen so vertraut hat wie Ihnen.
Und dass sie nie in Ruhe hätte gehen können, hätte sie nicht gewusst, dass er bei Ihnen ist.
Mit tiefer Dankbarkeit,
Anne Hennemann.“

Erwin faltete den Brief langsam zusammen.
Dann nahm er den kleinen Schlüssel, drehte ihn zwischen den Fingern.

Frido sah ihn an.
Er schien etwas zu ahnen.

**

Am nächsten Tag brachte ein Lieferwagen ein kleines Paket.
Sorgfältig verpackt, mit einem leichten Duft nach Lavendel.
Darin: eine flache, handgearbeitete Holzkiste mit Schnitzereien.

Erwin legte sie auf den Tisch, steckte zögerlich den Schlüssel ins Schloss.
Ein sanftes Klicken.
Der Deckel hob sich.

Drinnen lag ein altes Hundehalsband aus Leder.
Ein Foto, Frido als junger Hund, mit glänzendem Fell und einer roten Schleife um den Hals.
Ein Notizbuch.
Und ein Brief, beschriftet mit „Für später“.

Erwin nahm zuerst das Foto.
Frido kam näher, schnupperte daran.
Dann setzte er sich ruhig hin, als würde er sich selbst erkennen.

Das Notizbuch war voller kleiner Skizzen, Erinnerungen, Sätze von Lisa.
„Rico jagt Blätter“
„Rico schläft auf der Couch, aber ich tu so, als wüsste ich es nicht“
„Wenn ich gehe, soll er bleiben dürfen.“

Erwin legte alles wieder vorsichtig zurück.
Nur den Brief nahm er mit ans Fenster.
Er öffnete ihn erst, als der Abend kam.

**

„Lieber Erwin,
wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich wohl nicht mehr da. Aber das ist in Ordnung. Ich bin gegangen mit dem Wissen, dass Rico – mein Rico – bei einem Menschen ist, der ihn mehr liebt, als ich es je konnte.
Manchmal braucht es zwei Leben, damit ein Herz ganz wird.
Sie haben meins vervollständigt.
Ich habe nichts Großes zu vererben.
Nur einen Wunsch.
Lassen Sie Frido leben, als wäre jeder Tag neu.
Und wenn Sie einmal gehen, geben Sie ihm weiter.
Vielleicht an ein Kind. Oder an jemanden, der vergessen hat, was Liebe bedeutet.
So lebt er weiter.
Und wir auch.
In Dankbarkeit,
Lisa“**

**

Erwin saß lange am Fenster.
Die Tränen liefen leise.
Nicht vor Trauer.
Sondern vor Wärme.

Paul kam später, sah den offenen Brief und sagte nichts.
Er legte nur eine Hand auf Erwins Schulter.

Frido schlief dazwischen.
Sein Atem ging ruhig.
Ein Lebewesen voller Geschichten, getragen von der Liebe zweier alter Seelen.

**

In den nächsten Tagen veränderte sich etwas in Erwin.
Nicht plötzlich, aber deutlich.

Er wurde stiller, nachdenklicher.
Sprach weniger, schrieb mehr.
Manchmal saß er einfach da und beobachtete Frido, als wollte er sich jede Bewegung einprägen.

Eines Morgens sagte er zu Paul:
„Wenn ich mal nicht mehr kann, wirst du auf ihn aufpassen?“

Paul sah ihn lange an.
Dann nickte.

„Versprochen.“

**

Der Winter wurde kälter.
Der Hof lag still unter Schnee.
Doch in Erwins Wohnung war es warm.
Nicht nur vom Ofen.
Vom Leben, das durch jede Ecke zog.

Erwin begann, seine Erinnerungen aufzuschreiben.
Nicht für sich.
Für später.
Für den, der vielleicht irgendwann auf dem Balkon sitzt und denkt, dass das Leben vorbei sei.

Er schrieb über Frido.
Über Lisa.
Über Mücke, den Hund aus der Kindheit.
Und über die Liebe, die in der Stille wohnt.

**

Eines Abends, während draußen ein Schneesturm tobte, fiel der Strom aus.

Die Wohnung wurde dunkel.
Kein Licht, kein Summen vom Kühlschrank.
Nur das Knacken des Holzes und Fridos gleichmäßiger Atem.

Paul zündete Kerzen an.
Erwin saß im Sessel, Frido zu seinen Füßen.

„Komisch“, sagte Paul, „früher hätte mich sowas verrückt gemacht. Jetzt… ist es fast friedlich.“

Erwin lächelte schwach.
„Manchmal muss alles still sein, damit man hört, was wirklich zählt.“

**

In dieser Nacht, zwischen Dunkelheit und Kerzenschein, schlief Erwin ein.
Tiefer als sonst.
Ruhiger.
Mit dem Kopf leicht zur Seite geneigt, die Hände im Schoß gefaltet.

Frido lag nah bei ihm.
Sein Herz schlug ruhig, seine Augen halb geschlossen.

Paul deckte sie beide zu.
Dann setzte er sich daneben.
Und wartete.
Nicht auf das Ende.
Sondern auf den Morgen.

**

Denn im Morgengrauen bewegte sich Frido, aber Erwin blieb ganz still.

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