🐾 Teil 10: Ein Platz im Licht
Der Morgen kam leise.
Kein Glockenschlag, kein Windstoß.
Nur das erste, blasse Licht über den Dächern von Buer, das sich langsam in Erwins Wohnzimmer tastete.
Frido stand auf.
Langsam.
Er schüttelte sich kurz, streckte die Pfoten und legte dann die Schnauze vorsichtig auf Erwins Knie.
Keine Reaktion.
Paul, der im Sessel nebenan geschlafen hatte, wachte auf.
Er sah Frido.
Dann sah er zu Erwin.
Still.
Friedlich.
Die Augen geschlossen, ein Hauch von Lächeln auf den Lippen.
Paul stand auf, ging langsam näher.
Er wusste es sofort.
Erwin war gegangen.
Nicht im Schmerz.
Nicht im Kampf.
Einfach… gegangen.
**
Die Wohnung blieb still.
Frido setzte sich neben den Rollstuhl.
Sah zum Fenster, als wüsste er, dass etwas fehlte.
Aber er jaulte nicht.
Er winselte nicht.
Er war einfach da.
Paul legte eine Hand auf Erwins Schulter.
Warm war sie noch, aber das Leben hatte sich bereits verabschiedet.
Mit Würde.
Mit Ruhe.
**
Die Stunden danach verschwammen.
Der Arzt kam. Dann der Bestatter.
Jasmin kam mit Leon. Sami stand still in der Tür, den Kopf gesenkt.
Niemand sprach viel.
Es gab nichts mehr zu sagen.
Nur Frido wich nicht von Erwins Seite.
Er saß da, bis der Körper fortgebracht wurde.
Und als die Tür sich schloss, jaulte er zum ersten Mal.
Ein kurzer, tiefer Laut.
Erschütternd.
Ehrlich.
**
Die Nachricht verbreitete sich schnell.
„Erwin ist gegangen“, sagte man im Hausflur.
„Im Schlaf“, sagte jemand.
„Mit Frido an seiner Seite.“
Am Abend stellten Nachbarn Kerzen auf die Fensterbänke.
Leon legte ein selbstgemaltes Bild vor die Tür, Erwin auf einer Wolke, Frido neben ihm.
„Danke“, stand darunter.
**
Ein paar Tage später wurde Erwin beerdigt.
Keine große Zeremonie.
Aber voller Herzen.
Paul hielt eine kleine Rede.
Er sprach von Brüdern.
Von alten Fehlern.
Von einem Balkon, der mehr war als ein Stück Beton.
Und von einem Hund, der gekommen war, als niemand mehr klopfte.
Frido saß ruhig vor dem Sarg.
Ein schwarzes Halstuch um den Hals.
Still.
Wachsam.
**
Nach der Beerdigung saßen sie im Hof zusammen.
Jasmin brachte Tee, Sami verteilte selbstgebackene Kekse.
Niemand lachte laut.
Aber es war auch keine Schwere.
„Er hat etwas hinterlassen“, sagte Jasmin.
„Nicht nur den Hund. Sondern etwas Größeres.“
Paul nickte.
Er wusste, was sie meinte.
**
Am nächsten Tag packte Paul ein paar von Erwins Sachen in Kisten.
Er behielt nicht viel.
Nur das Notizbuch mit Erwins Erinnerungen.
Das Halsband von Frido.
Und den Brief von Lisa.
Frido folgte ihm durch jede Ecke der Wohnung.
Still.
Treu.
Dann stand Paul am Fenster.
Der Balkon war leer.
Kein Erwin.
Nur Licht.
**
In den folgenden Wochen lebte Frido bei Paul.
Es war nicht leicht.
Manchmal lag der Hund stundenlang vor der alten Tür von Erwins Wohnung, als würde er warten.
Aber Stück für Stück kam das Leben zurück.
Paul ging mit ihm spazieren, sprach mit ihm wie einst Erwin.
Und Frido hörte zu.
So, wie er es immer getan hatte.
**
Eines Morgens, als der Frühling sich ankündigte, stand Paul wieder auf dem Balkon.
Er hatte den Platz freigeräumt, eine Decke hingelegt, eine Schale Wasser hingestellt.
Frido kam dazu, legte sich hin.
Wie früher.
Wie damals.
Paul streichelte ihn.
„Weißt du, mein Junge“, sagte er,
„dieser Balkon war nie ein Ort für Pflanzen oder Möbel.
Er war ein Hafen.
Für dich.
Für Erwin.
Jetzt auch für mich.“
**
Die Nachbarn kamen vorbei.
Man brachte Blumen.
Eine Frau aus dem dritten Stock las aus Erwins Notizbuch vor.
Leon hatte ein neues Schild gebastelt.
„Fridos Balkon – wo Hoffnung wohnt“
Sami schraubte es an die Wand.
Mit festen Händen und feuchten Augen.
**
Frido wurde älter.
Sein Fell wurde grauer, sein Gang langsamer.
Aber er blieb da.
Wachte.
Liebte.
Und Paul war nicht mehr allein.
Eines Tages sagte er zu Jasmin:
„Ich glaube, Erwin lebt weiter. Nicht in Büchern. Nicht in Bildern.
Sondern in diesem Hund.
Und in uns.“
Sie nickte.
Dann sagte sie leise:
„Manchmal reicht ein Tier, um eine ganze Straße zu verändern.“
**
Im Sommer wurde ein Fest veranstaltet.
Das erste Hoffest nach Erwins Tod.
Zu seinen Ehren.
Und zu Fridos.
Es kamen mehr Menschen als je zuvor.
Ein Musiker spielte Gitarre, Kinder malten Bilder.
Frido lag auf seinem Platz am Balkon, beobachtete alles mit ruhigem Blick.
Und als die Sonne unterging, sagte Paul:
„Erwin hätte das gemocht.“
**
Die Zeit verging.
Wie immer.
Frido schlief eines Tages ein und wachte nicht mehr auf.
Still.
Ohne Schmerz.
Mit dem Kopf auf Erwins alten Pantoffeln.
Paul begrub ihn im Innenhof.
Unter dem Apfelbaum.
Mit einer kleinen Tafel aus Holz.
„Frido – der Hund auf dem Balkon“
**
Jahre später erzählte man sich noch immer von ihm.
Von Erwin.
Von dem Tag, als alles begann, mit einem Hund, der plötzlich da war.
Im dritten Stock.
Im Regen.
Allein.
Und doch genau am richtigen Ort.
**
Die Wohnung blieb nie lange leer.
Denn wer auch immer einzog, spürte etwas.
Etwas Warmes.
Echtes.
Ein Hauch von Hoffnung.
**
Und manchmal, wenn die Sonne das Balkongeländer gold färbte, glaubte man, den Schatten eines alten Mannes zu sehen, mit einem Hund an seiner Seite.