Teil 4 – Schatten vor der Tür
Es war kurz nach zwei Uhr morgens, als Marlene aus dem Schlaf gerissen wurde.
Paul jaulte leise. Kein Schrei. Kein Schmerzlaut. Sondern ein Laut voller Sehnsucht — oder Angst. Dann folgte ein Kratzen. Nicht wild, sondern gleichmäßig. Als würde jemand draußen ganz ruhig mit den Fingern über die Tür fahren.
Marlene setzte sich auf. Die Taschenuhr auf dem Nachttisch tickte hörbar. Paul stand jetzt, zitternd, mit gesträubtem Fell vor der Wohnungstür. Sein Blick war auf einen Punkt gerichtet, den sie nicht sehen konnte.
„Ist da jemand?“ rief sie mit brüchiger Stimme.
Keine Antwort.
Nur das Kratzen.
Dann — nichts.
Sie stand langsam auf, griff den Stock neben dem Bett und ging zur Tür. Vorsichtig öffnete sie den oberen Spalt. Das Haus war still. Der Flur lag im Dunkeln. Nur das kleine Fenster am Ende des Gangs war vom Mondlicht beschienen.
Niemand zu sehen.
Aber auf der Fußmatte lag eine Kornblume.
Frisch. Noch feucht vom Tau.
Marlene spürte, wie sich ein kalter Schauer den Rücken hinaufzog.
Nicht aus Angst.
Sondern weil etwas an dieser Nacht… wachrief, was sie tief in sich begraben hatte.
Sie hob die Blume auf, drückte sie an ihre Brust — und schloss die Tür.
Am nächsten Morgen lag Paul zusammengerollt neben der Tür.
Er war ruhig, fraß aber wenig.
Marlene stellte ihm ein bisschen Brühe hin und kraulte sanft seinen Hals.
„Was hast du gespürt, hm? War es nur der Wind? Oder… war da jemand, den ich nicht sehen durfte?“
Paul hob kurz den Kopf, leckte ihr über die Hand und legte ihn dann wieder auf die Decke.
Sie dachte den ganzen Tag über die Kornblume nach.
Über die Briefe.
Und über ein Gesicht, das sich ihr immer wieder in Erinnerung drängte — faltig, mit hellen Augen, das damals am Fenster gegenüber gewohnt hatte.
Ein Mann, der Ottos Beerdigung aus der Ferne beobachtet hatte.
Ernst?
Oder nur Einbildung?
In der Woche darauf kam Paul langsam wieder zu Kräften.
Er lief wieder kleine Runden mit ihr.
Der Tierarzt war zufrieden. Die Narbe heilte gut.
„Noch ein, zwei Wochen, dann ist er fast wieder ganz der Alte“, sagte Dr. Bäumler.
„Aber bitte achten Sie auf seine Atmung. Und… keine Treppen. Nicht zu viel Aufregung.“
Marlene nickte. Sie fühlte sich selbst, als wäre sie nach einer langen Krankheit endlich wieder im Frühling angekommen.
Sie nahm Paul mit zum Friedhof.
Die Menschen grüßten sie nun beim Namen. Manche blieben stehen, sprachen über ihre eigenen Hunde, ihre Einsamkeit, das Wetter.
Eine Frau sagte sogar: „Sie geben mir Hoffnung. Dass man nicht zu alt ist, um etwas zu retten.“
Und Marlene lächelte still.
In der Friedhofskapelle stand mittlerweile eine kleine Box mit einem Schild:
„Für Pauls Pflege und für andere Tiere ohne Zuhause.
Danke an alle, die helfen.
– Ihre Marlene Steinberger“
Daneben hing ein Foto. Paul, nach der OP, mit einer roten Schleife um den Hals.
Darunter ein zweites Bild – vom ersten Tag, als er neben Ottos Grab lag.
Verändert. Aber dieselben Augen.
Eines Nachmittags entdeckte sie auf der Bank neben dem Grab ein Päckchen.
Sauber verpackt. Mit blauer Kordel.
Darauf stand:
„Für Paul – und für den Anfang von etwas Neuem.“
Sie öffnete es vorsichtig.
Darin: Ein altes Halsband. Leder, abgetragen, mit eingraviertem Namen: „Bela“. Und ein kleiner Zettel:
„Er war mein erster Hund.
Ich habe ihn verloren.
Vielleicht kann sein Halsband jemand anderem Glück bringen.“
Marlene streichelte das Leder.
Dann legte sie es Paul um.
Es passte.
Am Abend, als sie in ihrem alten Sessel saß und Paul zu ihren Füßen döste, nahm sie einen alten Schuhkarton aus dem Regal.
Darin: Briefe von Otto.
Geschrieben 1970 bis 1973, aus seiner Zeit im Krankenhaus.
Sie hatte sie nie weggeworfen, aber auch nie wieder gelesen.
Jetzt tat sie es.
„Liebste Marlene,
Ich weiß, du wirst mir Vorwürfe machen, dass ich schweige. Aber manchmal ist Schweigen die einzige Art, ein lautes Herz zu beruhigen.“
Sie las lange.
Bis spät in die Nacht.
Und als sie einschlief, träumte sie, Paul würde plötzlich sprechen.
Mit Ottos Stimme.
Er sagte:
„Ich bin nicht weg. Ich habe dich nie verlassen.“
Am nächsten Morgen war Paul unruhig.
Er bellte zweimal. Dann lief er zur Tür. Kratzte, wie in jener Nacht.
Marlene öffnete vorsichtig.
Draußen stand ein älterer Mann mit grauem Mantel, zerschlissener Tasche, und Augen, die sie sofort erkannte — auch wenn sie sie Jahrzehnte nicht gesehen hatte.
„Marlene“, sagte er heiser.
„Ich war’s. Ich hab die Uhr gebracht.“
Bevor sie etwas sagen konnte, knickte der Mann leicht ein — und Paul lief sofort zu ihm, als hätte er ihn all die Jahre vermisst.