Teil 5 – Namen aus der Stille
Paul schnüffelte am Mantel des Mannes, seine Ohren zuckten, sein Schwanz wedelte leicht — zögerlich, aber nicht abweisend. Der Alte sackte langsam auf die Knie, als trüge er nicht nur seinen Körper, sondern Jahrzehnte mit sich.
„Du bist es wirklich“, flüsterte er. „Der Hund vom Friedhof.“
Marlene stand wie erstarrt im Türrahmen.
Der Mann hob den Kopf, und in seinen Augen lag keine Angst. Nur Reue.
„Ernst?“, fragte sie leise.
Ein Nicken.
„Ich dachte, du wärst längst tot.“
Ein Zucken um seine Lippen, dann ein raues Lachen, das abrupt in einem Husten endete.
„Ich war nie ganz lebendig, seit… na ja. Ich habe mich damals zurückgezogen. Erst nach Ot… Ottos Tod… habe ich dich wieder gesehen. Aber ich konnte nicht. Ich war ein Feigling, Marlene.“
Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
„Du hast ihm die Uhr nicht zurückgegeben.“
„Ich habe sie aufbewahrt. Wie ein Schuldstein.“
Er griff in seine Tasche und zog ein altes, zerknittertes Foto hervor. Darauf: Otto, sie selbst – und Ernst. Sommer 1968. Drei lachende Gesichter im Schrebergarten, Paulaner in der Hand, Sonne auf der Stirn.
„Ich hab euch nie vergessen.“
Sie setzten sich.
Paul legte sich zwischen sie, wie ein stiller Vermittler.
Ernst erzählte langsam, mit brüchiger Stimme:
Wie er Ottos Vertrauen verspielt hatte – durch ein Missverständnis, einen Streit, den niemand je richtig aussprach.
Wie er wegging, nach Hamburg.
Wie er später zurückkam, sich nie traute, an der Tür zu klopfen.
Wie er den Hund auf dem Friedhof zuerst sah — und ihn fütterte. Heimlich. Immer dienstags. Immer dann, wenn Marlene nicht kam.
„Er hat gewartet. Auf dich, glaube ich. Aber auch auf jemanden, der versteht, was es heißt, vergessen zu werden.“
Marlene schwieg lange.
Dann sagte sie:
„Du bist ein Feigling geblieben, Ernst. Aber du bist auch ein Mensch. Und Menschen dürfen manchmal feige sein, wenn sie später den Mut finden, wiederzukommen.“
Sie tranken Tee.
Ernst blieb drei Stunden.
Sprach wenig. Schaute oft auf Paul, der sich entspannt zu ihren Füßen räkelte.
Als er aufstand, sagte er:
„Wenn du willst, komme ich wieder. Vielleicht kann ich euch helfen. Mit dem Hund. Mit der Kapelle. Mit der Box.“
Marlene überlegte.
Dann nickte sie.
„Jeden Dienstag. So wie früher.“
Am folgenden Dienstag kam er. Mit einem alten Werkzeugkasten.
„Die Spendenbox ist locker, das Schloss klemmt. Ich dachte, ich kann was tun.“
Sie sah ihm zu. Wie seine Hände zitterten, aber wussten, was sie taten.
Paul saß daneben, beobachtete jeden Handgriff.
Und als Ernst fertig war, stand plötzlich ein kleines Mädchen hinter ihm.
Lilli. Acht Jahre alt. Die mit dem Brief.
Sie hielt einen Umschlag.
„Für Paul. Ich habe Taschengeld gesammelt. Und meine Oma hat auch was gegeben. Sie sagt, der Hund erinnert sie an ihren ersten.“
Ernst nahm den Umschlag.
Ging in die Knie.
„Weißt du, Mädchen“, sagte er, „dieser Hund erinnert uns alle an etwas. Manche an Liebe. Manche an Schuld. Aber immer an etwas Gutes.“
Lilli lächelte, dann rannte davon.
Marlene sah ihn lange an.
Die Tage wurden wärmer.
Paul lief nun wieder kleine Runden. Kein Sprint, aber entschlossen.
Er trug das alte Halsband mit Stolz.
Und Marlene…
Sie begann zu schreiben.
Nicht an Otto.
Sondern an sich selbst.
Notizen. Erinnerungen. Fragmente.
„Heute hat Paul zum ersten Mal in der Sonne gedöst, ohne zu zittern. Ich glaube, er beginnt zu glauben, dass er bleiben darf.“
„Ernst bringt jeden Dienstag ein neues Werkzeug mit, aber redet kaum. Vielleicht sind Worte nicht das, was heilt.“
„Ich habe heute vergessen, traurig zu sein. Erst abends fiel mir auf, dass ich nicht geweint habe.“
An einem Freitag kam ein Brief aus dem Rathaus.
**„Sehr geehrte Frau Steinberger,
durch Ihre Initiative wurde der Friedhof nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern auch der Begegnung. Die Gemeinde würde gern eine kleine Tafel am Grab Ihres Mannes anbringen, mit einem Satz, der viele bewegt hat:
‘Manchmal beginnt Trost dort, wo niemand ihn sucht.’
Dürfen wir das in Ihrem Namen tun?“**
Marlene las den Brief dreimal.
Dann schrieb sie:
„Ja. Aber bitte ergänzen Sie:
Für Otto. Und für Paul.“
Am Abend saßen sie wieder zu dritt am Grab.
Paul.
Ernst.
Und sie.
Ein älteres Ehepaar kam vorbei. Der Mann trug ein altes Leckerlibeutelchen, das er Paul reichte.
„Der gehört irgendwie allen, nicht?“
Marlene nickte.
„Er ist ein bisschen wie eine Brücke.“
Ernst fügte hinzu:
„Oder wie eine Entschuldigung, die man nicht mehr in Worte fassen muss.“
Und dann, als die Sonne unterging, kam eine junge Frau auf sie zu.
Sie hatte rotblonde Locken, Tränen in den Augen, und hielt einen Beutel in der Hand.
Darin: Medikamente, ein kleiner Verband, ein paar Kauknochen.
„Ich war früher Tierarzthelferin“, sagte sie. „Ich kannte Paul, bevor er auf dem Friedhof lebte. Er war mal jemandem entlaufen. Ich dachte, er sei tot.“
Marlene blickte sie stumm an.
„Ich darf ihn nicht zurückfordern. Ich weiß das. Er hat euch jetzt. Aber… danke. Dass er leben darf.“
Sie kniete sich hin.
Paul schnupperte an ihr.
Dann leckte er ihre Hand.
Einmal.
In dieser Nacht lag Paul an der Wohnungstür — nicht weil er Angst hatte, sondern weil er wartete.