Teil 7 – Zwischen Herzschlag und Hoffnung
Der Empfang in der Klinik war still. Kein hektisches Rufen, kein Klappern von Schalen – nur gedämpfte Schritte auf Linoleum, ein schwacher Lavendelduft, der Marlene seltsam fremd vorkam.
Dr. Bäumler kam ihnen sofort entgegen.
Ein Blick auf Paul genügte.
„Behandlungsraum drei. Wir geben sofort Flüssigkeit. Aber… es sieht nicht gut aus.“
Marlene spürte, wie ihre Finger krampfhaft das alte Halstuch um Pauls Hals umklammerten.
Sie hatte es ihm gestern noch frisch gewaschen. Lavendelduft. Jetzt roch es nach Angst.
„Was ist es diesmal?“ fragte sie, während Paul vorsichtig auf die Untersuchungsliege gehoben wurde.
Dr. Bäumler war ehrlich.
Wie immer.
„Der Tumor hat sich wieder aktiviert. Blutung im Bauchraum. Wir können versuchen, ihn zu stabilisieren. Aber er ist alt. Und schwach.“
Paul lag da, ruhig, wie ein ausgetrockneter Ast im Wind.
Seine Augen suchten nicht.
Sie warteten.
„Möchten Sie bleiben?“ fragte die Assistentin leise.
Marlene setzte sich auf den Stuhl neben der Liege. Ihre Knie zitterten, aber sie wich nicht.
Sie streichelte Pauls Kopf.
Und begann zu erzählen.
Von Otto.
Von den Kornblumen.
Vom ersten Tag auf dem Friedhof.
„Weißt du noch, wie du dich einfach neben mich gesetzt hast, als wäre es das Normalste der Welt?“
Paul atmete langsam.
Ein heiseres, fast lautloses Winseln entwich seiner Kehle.
„Du hast mich gesehen, als niemand es tat“, flüsterte sie. „Du warst da, als ich niemanden hatte.“
Eine Träne tropfte auf sein Fell.
Er zuckte nicht.
Zwei Stunden vergingen.
Ernst kam. Wortlos.
Er setzte sich auf die andere Seite, legte eine Hand auf Pauls Rücken.
Dann holte er eine kleine Lederschachtel aus der Manteltasche.
„Ich wollte sie dir erst nächste Woche geben“, murmelte er.
Darin lag ein Medaillon.
Klein, silbern, alt.
Innen: Ein Foto von Otto.
Und – überraschend – ein Foto von Paul.
„Ich hab’s machen lassen. Falls… wir Abschied nehmen müssen.“
Marlene schloss das Medaillon mit zitternden Fingern.
„Er gehört dazu.“
Gegen Abend öffnete Paul plötzlich die Augen.
Nur einen Moment.
Er sah Marlene an.
Dann Ernst.
Und dann… hob er schwach den Kopf und leckte Marlene über die Hand.
Ein einziges Mal.
Wie damals nach der ersten Operation.
„Das war sein Danke“, sagte Ernst heiser.
Paul legte den Kopf wieder ab.
Und schlief ein.
Nicht schwer.
Nicht abrupt.
Sondern wie einer, der endlich müde ist – aber nichts mehr fürchten muss.
Die Nacht war lang.
Paul wurde über Nacht in der Klinik behalten. Die Tropfen liefen weiter, Schmerzmittel hielten ihn ruhig.
Aber Marlene wusste: Es war nicht mehr viel Zeit.
Sie ging nicht heim.
Sie blieb. Auf einem Stuhl.
Eingeschlafen war sie nicht – eher in eine Art Zwischenwelt gefallen, zwischen Dämmerung und Erinnerung.
Gegen vier Uhr früh hörte sie es.
Ein tiefes, kehliges Knurren.
Nicht von Paul. Sondern aus dem Innern ihrer Brust.
Es war der Klang des Verlustes, der sich meldete.
Langsam. Unaufhaltsam.
Um sieben Uhr betrat Anna, die Tierarzthelferin, leise den Raum.
Sie hatte Tränen in den Augen.
„Er schläft noch“, sagte sie.
„Aber wir sollten reden.“
Die Entscheidung war schwer.
„Wir könnten ihn noch einmal stabilisieren. Noch ein paar Tage vielleicht“, sagte Dr. Bäumler.
„Aber es wäre nicht ehrlich. Nicht ihm gegenüber.“
Marlene schloss die Augen.
„Ich habe einmal zu lange gewartet, bei Otto. Ich kann das nicht noch einmal tun.“
Ernst griff nach ihrer Hand.
Sie hielt sie fest.
Um neun Uhr war der kleine Raum still.
Paul lag auf seiner Decke. Das Lavendeltuch unter dem Kopf.
Marlene kniete sich zu ihm.
„Mein Junge. Du warst nie meiner. Aber ich habe dir alles gegeben, was ich hatte.“
Sie küsste ihn auf die Stirn.
Er öffnete die Augen noch einmal.
Sah sie.
Ruhig.
Ohne Angst.
Dann… ein Atemzug.
Noch einer.
Und Stille.
Der Moment war heilig.
Nicht laut.
Nicht dramatisch.
Nur ein stilles „Danke“, das durch den Raum zu schweben schien.
Anna trat leise hinaus.
Dr. Bäumler nickte Ernst zu.
Dann war es nur noch Marlene, die Pauls Kopf in ihren Schoß nahm und flüsterte:
„Du darfst jetzt gehen. Ich bleibe hier.“
Zwei Stunden später verließen sie gemeinsam die Klinik.
Ernst trug den Korb.
Darin Paul – zugedeckt mit dem Tuch.
Auf dem Rücken: das Medaillon.
Marlene hielt die Urne in den Händen, die sie bereits ausgesucht hatte.
Schlicht. Aus Holz.
Darauf: eine eingravierte Kornblume.
Am Friedhof warteten schon Menschen.
Nicht viele. Aber genug.
Lilli mit einer Zeichnung.
Frau Ziegler mit einer Decke.
Der Briefträger mit einer Rose.
Sogar Frau Feldmann war da.
Niemand sprach laut.
Einige weinten.
Marlene trat vor.
Sie stellte die Urne neben Ottos Grab.
Dann sah sie zu den anderen.
„Paul war nicht nur ein Hund. Er war der, der uns gezeigt hat, dass Liebe keine Sprache braucht. Und dass Treue nicht gelernt werden muss – sie ist einfach da. Wie Licht durch einen Fensterspalt.“
Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen.
Und aus der Ferne hörte man ein leises Bellen.
Vielleicht eingebildet.
Vielleicht nicht.
Sie verstreuten Pauls Asche am Fuß des Birnbaums.
Marlene legte die Kornblume dazu.
Dann das Medaillon.
Nicht in die Erde.
Sondern in die Spendenbox.
„Er gehört jetzt allen“, sagte sie leise.
Als sie sich umdrehte, lag auf der Bank ein neuer Brief – diesmal mit Pauls Namen in verschnörkelter Kinderschrift.