🐾 Teil 6: Worte für einen, der nicht mehr wartet
Der Morgen war still.
Die Linde warf ein weiches Licht auf die Bank, das Gras war noch feucht vom Tau.
Nele saß da, allein.
Aber es fühlte sich nicht leer an.
Sie hatte den Zettel selbst geschrieben.
Mit zittriger Hand.
Nicht, weil sie traurig war – sondern weil sie spürte, dass es wichtig war, dass etwas bleibt.
Sie hatte ihn unter das Holzkästchen geschoben, zwischen den Ausweis und das Foto von Herrn Leonhardt.
Nur ein kleiner Satz.
Aber einer, der jetzt alles sagte:
„Er ist gegangen. Aber ich bleibe.“
Später an diesem Tag kam Luca dazu.
Er setzte sich schweigend neben sie, wie sie es früher bei Oskar getan hatte.
„Ist er jetzt im Himmel?“, fragte der Junge nach einer Weile.
Nele sah zum Himmel, wo ein einzelner Vogel über dem Park kreiste.
„Wenn’s ihn gibt, dann ist er da. Mit dem alten Mann. Auf einer besseren Bank.“
Luca nickte.
„Ich hab was mitgebracht.“
Er zog ein Heft aus seiner Jacke.
Vorne stand in Kinderschrift: Oskar – Ein Hund, der wartet.
„Ich schreibe alles auf, was du mir erzählt hast“, sagte Luca.
„Weil ich glaube, dass nicht vergessen werden darf, wer er war.“
Nele schluckte.
Sie war sonst nicht nah am Wasser gebaut.
Aber das hier war anders.
„Willst du das mit mir zusammen machen?“, fragte er.
Sie nickte.
„Dann schreiben wir das Buch für ihn“, sagte sie.
„Und für alle, die niemanden haben.“
Im Heim wurde der Verlust von Oskar unterschiedlich aufgenommen.
Einige waren erleichtert, ein Tier bedeutete schließlich Aufwand.
Andere sprachen ihm still Respekt aus.
Frau Martens brachte Nele ein gerahmtes Foto vorbei.
Oskar auf der Bank, die Sonne im Rücken.
„Das hab ich machen lassen. Damit du ihn nicht vergisst.“
Nele hängte es über ihr Bett.
Gleich neben das Regal mit dem kleinen Holzkasten, den sie zurückgeholt hatte.
Darauf legte sie den Zettel, den Ausweis, das Foto und eine getrocknete Lindenblüte.
Der Sommer hatte sie direkt unter der Bank fallen lassen.
Als Zeichen, so fühlte es sich an.
In der Schule war Oskar nun Teil ihrer Geschichte.
Sie durfte in einer Projektstunde einen kurzen Vortrag halten.
Über alte Hunde.
Über Treue.
Über das, was bleibt, wenn keiner mehr zusieht.
Es war still im Raum, als sie sprach.
Sogar die sonst so laute Pia aus der letzten Reihe sah sie an, ohne zu tuscheln.
Am Ende sagte Nele:
„Wir reden oft über die, die laut sind. Die bellen. Die sich zeigen. Aber manchmal sind es die Stillen, die am meisten tragen.“
Dann setzte sie sich.
Kein Applaus. Kein Lachen.
Nur diese Art von Schweigen, die nachwirkt.
Eines Nachmittags, Wochen später, als die Blätter sich langsam verfärbten, ging sie wieder zur Bank.
Sie hatte es eine Zeit lang gemieden.
Nicht aus Trauer.
Sondern weil sie nicht wusste, ob sie noch gebraucht wurde.
Doch der Platz war da.
Leer.
Aber nicht vergessen.
Auf dem Holzkästchen lag ein neuer Gegenstand.
Ein kleiner, selbst gebastelter Tonknochen.
Verziert mit bunten Punkten.
Auf der Unterseite stand: „Danke, Oskar.“
Nele sah sich um.
Niemand war zu sehen.
Sie hob den Knochen auf, strich mit dem Finger darüber.
Ein Kind hatte ihn gemacht.
Vielleicht eines, das still zusah.
Oder eines, das verstanden hatte, was Oskar war – ein Anker.
Sie lächelte.
„Dann war er nicht nur für mich da“, flüsterte sie.
Später fragte sie im Heim, wer den Knochen gebastelt hatte.
Es war Klara, ein Mädchen aus der zweiten Etage.
Sie war erst neun, stotterte beim Sprechen und hatte noch nie viel mit anderen geredet.
Nele klopfte an ihre Tür.
Klara machte nicht auf.
Aber einen Spalt breit öffnete sich das Fenster.
„Das mit dem Knochen warst du, oder?“, fragte Nele.
Klara nickte kaum sichtbar.
„Danke.“
Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens.
Dann schloss sich das Fenster wieder.
Aber Nele wusste: Etwas war angekommen.
Im Winter war die Bank oft verschneit.
Doch sie blieb ein Ort, den man besuchte.
Ein älterer Herr stellte ein Teelicht auf das Holzkästchen.
Ein Paar brachte einen kleinen Strauß Tannenzweige vorbei.
Es sprach sich herum:
Hier hatte ein Hund gewartet.
Und ein Mädchen mit ihm.
Eines Abends, als der Frost in den Ästen knisterte, saß Nele mit Luca wieder dort.
„Glaubst du, er weiß, dass wir noch kommen?“, fragte der Junge.
Nele überlegte.
„Ich glaube, er wusste immer mehr als wir.“
Und dann, ganz ohne großen Moment, ganz ohne Pläne, war das Buch fertig.
Luca hatte geschrieben, Nele hatte ergänzt.
Sie hatten gezeichnet, geklebt, erzählt.
Ein Betreuer aus dem Heim half beim Drucken.
Sie nannten es:
„Der Hund auf der Parkbank – Eine Geschichte, die blieb.“
Die erste Lesung machten sie im Pflegeheim gegenüber.
Zwölf Menschen hörten zu.
Zwei schliefen ein.
Aber eine Frau weinte leise, als Nele den Teil las, wo Oskar zum letzten Mal den Kopf auf ihren Schoß gelegt hatte.
Am Ende der Lesung sagte sie:
„Ich hatte auch mal einen Hund. Der hieß Fritz. Ich glaube, er hat auch gewartet.“
Als Nele an diesem Abend nach Hause ging, war ihr Herz ruhig.
Nicht leicht aber ruhig.
Sie wusste, dass Geschichten bleiben.
Wenn jemand sie erzählt.
Wenn jemand sie fühlt.
Wenn jemand nicht wegläuft.
Und sie wusste, dass Oskar nie wirklich gegangen war.
Er war nur woanders.
Vielleicht in den stillen Momenten, wenn jemand allein auf einer Bank sitzt.
Oder wenn ein Kind sich traut, Danke zu sagen.
Oder wenn ein Mädchen, das keine Heimat hatte, plötzlich nicht mehr allein war.
An einem windigen Frühlingstag saß ein neuer Hund auf der Bank, jung, ungestüm, aber mit einem Blick, der seltsam vertraut war.