🐾 Teil 8: Der Junge mit dem Schlüssel
Er saß schief auf der Bank, die Schultern hochgezogen, die Hände tief in den Ärmeln seiner Jacke vergraben.
Ein Junge, vielleicht dreizehn.
Dünn, fast durchsichtig.
Wie einer, den man leicht übersah, wenn man es wollte.
Nele sagte nichts.
Sie sah nur zu.
Wie er den Kies mit den Schuhspitzen durchpflügte.
Wie er den Blick nicht hob.
Dann sah sie die kleine Kette um seinen Hals.
Daran: ein rostiger Schlüssel.
„Hallo“, sagte sie schließlich.
Der Junge zuckte.
Dann nickte er stumm.
„Ich bin Nele.“
Er sah sie kurz an.
Ein scheues Gesicht.
Schmale Lippen, dunkle Augen, in denen Müdigkeit lag.
Dann murmelte er:
„Ben.“
Mehr nicht.
Sie saßen eine Weile schweigend.
Nele kannte das.
Die Stille war wie ein dritter Gast auf der Bank.
Man musste sie nicht vertreiben.
Nur aushalten.
„Warst du schon mal hier?“, fragte sie irgendwann.
Ben zuckte mit den Schultern.
„Zufällig.“
„Ich auch. Damals. Ich bin einfach losgelaufen. Hab mich hier hingesetzt. Da war ein Hund…“
Sie verstummte.
Dann lächelte sie.
„Er hat nicht geredet. Aber er hat gehört.“
Ben schwieg weiter.
Aber sein Blick hing jetzt an ihren Worten.
„Ich glaub, er hat auf Menschen wie uns gewartet. Die nicht wissen, wohin. Oder warum.“
Ein Windstoß ließ die Blätter rascheln.
Der Junge fröstelte.
Nele zog ihren Schal ab und legte ihn ihm wortlos auf den Schoß.
Er schob ihn nicht weg.
Sie sah ihn von da an öfter.
Immer zur selben Zeit.
Manchmal früher, manchmal später.
Aber er kam.
Mal saß er still.
Mal schob er ein altes Notizbuch hin und her.
Einmal zeichnete er Kreise in den Staub der Bank.
Er sprach kaum.
Aber er blieb.
Und das reichte.
Eines Tages brachte sie zwei belegte Brote mit.
Sie legte eines auf die rechte Seite der Bank.
Ohne Kommentar.
Ben nahm es nach einer Weile.
Aß langsam.
Wie jemand, der gelernt hatte, nie zu schnell zu hoffen.
„Der Schlüssel… wozu gehört der?“, fragte sie schließlich.
Ben starrte auf das Metall in seiner Hand.
Drehte es zwischen den Fingern.
Dann flüsterte er:
„Zu einem Keller.“
„Dein Zuhause?“
Er schüttelte den Kopf.
„Früher. Jetzt… nicht mehr.“
Nele sagte nichts.
Aber ihr Herz wurde schwer.
Am nächsten Tag brachte sie das Buch mit.
Ihr und Lucas Buch über Oskar.
Sie legte es vorsichtig auf die Bank.
Ben sah es an, doch er rührte es nicht an.
„Es ist kein Märchen“, sagte sie leise.
„Aber es hat ein Ende, das leise ist. Und ehrlich.“
Er schwieg.
Dann fragte er:
„Ist der Hund gestorben?“
„Ja.“
„Und du?“
„Ich bin geblieben.“
Er nickte.
Nahm das Buch.
Hielt es wie etwas, das zerbrechen konnte.
An einem Freitag kam er nicht.
Auch nicht am Samstag.
Sonntag war die Bank leer.
Und Nele spürte eine Unruhe, die sie nicht benennen konnte.
Sie fragte im Heim, ob jemand den Jungen kannte.
Niemand hatte ihn gesehen.
Nicht bewusst.
Schließlich ging sie zum Jugendzentrum am Rand der Stadt.
Und dort erkannte ihn jemand auf dem Foto, das Nele ausgedruckt hatte.
„Ben. Ja… der war mal hier. Vor ein paar Monaten. Dann ist er abgehauen.“
„Wohin?“
„Niemand weiß es.“
Sie suchte.
Im Park, in den Seitenstraßen.
Fragte in der Bäckerei, im Supermarkt, an der Tankstelle.
Niemand hatte ihn gesehen.
Bis sie schließlich zur alten Villa ging.
Die, in der Oskar früher mit Herrn Leonhardt gelebt hatte.
Der Garten war verwildert.
Das Haus stand leer, wie immer.
Doch hinter einem Busch sah sie Spuren.
Ein Stück Brot.
Ein zerrissener Beutel.
Und in der Ecke, eingerollt zwischen zwei Säcken – Ben.
Er schlief nicht.
Er starrte ins Leere.
Nele trat vorsichtig näher.
Er zuckte zusammen, als er sie sah.
„Du bist nicht weggegangen“, sagte sie.
Er nickte nur.
Dann kamen die Tränen.
Still, zögerlich.
Wie Wasser, das durch Risse in einem alten Damm bricht.
Nele setzte sich zu ihm.
Nicht zu nah.
Aber nah genug, um da zu sein.
„Ich bring dich nicht zurück. Nicht gegen deinen Willen. Aber ich bleib bei dir, bis du selbst willst.“
Ben nickte.
Dann, ganz leise:
„Ich hab den Schlüssel noch.“
„Dann ist noch was offen.“
Sie brachte ihm am nächsten Tag warme Kleidung.
Ein altes Zelt vom Jugendzentrum.
Und eine Thermoskanne mit Tee.
Sie sagte dem Heim nichts.
Noch nicht.
Denn sie wusste: Vertrauen wächst langsam.
Am dritten Tag sagte Ben:
„Ich will weg von hier. Aber ich weiß nicht wohin.“
Nele sah ihn an.
„Vielleicht gibt’s noch keine Tür für deinen Schlüssel. Aber ich helf dir, eine zu finden.“
Er lächelte schief.
„Du bist wie dieser Hund.“
Sie lächelte zurück.
„Ich nehm das als Kompliment.“
In dieser Nacht legte Ben etwas auf die Bank, bevor er ging – den Schlüssel.