🐾 Teil 10: Was bleibt
Der Sommer kam in großen Schritten.
Die Tage waren hell und lang.
Im Kurpark summten die Bienen um die Linde, unter der alles begonnen hatte.
Die Bank war inzwischen verwittert.
Die Holzlatten waren grau geworden, an den Seiten splitterte das Material.
Aber sie hielt noch.
Nele saß dort, wie so oft.
Neben ihr die kleine Kiste, deren Deckel sich kaum noch schließen ließ.
Darin lagen Erinnerungen.
Zettel, Briefe, Fotos.
Ein Stück Fell von Oskar, sorgfältig eingewickelt in Stoff.
Und ganz oben: Bens letzter Zettel.
Ich bin da.
Sie hatte lange gebraucht, um diesen einen Satz ganz zu begreifen.
Denn es war nicht nur ein „Ich“.
Es war ein Platzversprechen.
Ein Versprechen an die, die kamen.
Ein Versprechen an sich selbst.
Ben kam kurz darauf.
Er trug jetzt eine eigene Umhängetasche.
Darin: ein Notizbuch, ein kleiner Ball, zwei belegte Brote.
„Für den Fall, dass sich jemand zu mir setzt, der Hunger hat“, sagte er.
Nele lächelte.
„Du bist wie ein kleiner Oskar, nur mit Worten.“
„Und mit Brot.“
Sie lachten beide.
Nicht laut, nicht wild.
Nur dieses leise, warme Lachen, das bleibt.
An einem Samstag kam eine Gruppe aus dem Seniorenheim.
Zwei Rollstühle, drei Gehstöcke, viele Geschichten.
Sie hatten das Buch gelesen.
„Der Hund auf der Parkbank.“
Ein Exemplar lag in ihrer Bibliothek, und seitdem war die Bank ein fester Programmpunkt bei ihren Ausflügen.
Eine alte Frau mit weißen Haaren und klarem Blick sagte:
„Ich war früher oft hier. Als mein Mann noch lebte. Ich glaube, ich hab Oskar gesehen. Er war ruhig. Und treu.“
Sie setzte sich auf die rechte Seite der Bank.
„Ich bin alt. Ich hab nicht mehr viel Zeit. Aber ich hab gehört, dass es hier jemanden gibt, der zuhört.“
Ben nickte.
Er sagte nur:
„Ich bin da.“
Sie saßen lange dort.
Sprachen wenig.
Doch am Ende gab sie ihm einen Briefumschlag.
„Da ist mein Lieblingsgedicht drin. Ich hab’s nie jemandem gegeben. Bis heute.“
Ben nahm ihn vorsichtig.
Er las es am Abend.
Dann faltete es dreifach, steckte es in die Kiste und schrieb ein neues Schild:
Zettel dürfen behalten werden. Oder weitergegeben. Oder einfach hierbleiben.
Nele war inzwischen fast siebzehn.
Sie hatte ein Praktikum begonnen bei einer kleinen Druckerei im Ort.
Dort, wo das erste Buch über Oskar gedruckt worden war.
Die Chefin, Frau Reimann, war eine Frau mit Herz und rauer Stimme.
Sie sagte:
„Wer Worte so trägt wie du, soll sie nicht verstecken.“
Nele half beim Setzen von Texten, beim Binden von Heften.
Aber das, was sie am liebsten machte, war das Schreiben kleiner Karten.
Mit einfachen Sätzen.
„Du bist nicht vergessen.“
„Es ist in Ordnung, still zu sein.“
„Manche Freundschaften bellen nicht.“
Die Karten legte sie manchmal heimlich auf die Bank.
Manchmal steckte sie jemand ein.
Manchmal regnete es darauf, und sie zerfielen.
Aber sie waren da.
Wenigstens für einen Moment.
Eines Tages stand ein Vater mit seinem Sohn vor der Bank.
Der Junge war vielleicht fünf, mit schmutzigen Knien und einem Schmetterlingsnetz in der Hand.
„Ist das die Bank aus dem Buch, Papa?“
„Genau die“, sagte der Vater.
„Und ist der Hund noch da?“
Der Vater sah zu Nele, die gerade vorbeikam.
„Er ist nicht mehr hier. Aber vielleicht spürt man ihn noch.“
Der Junge legte das Netz ab.
Stellte sich vor die Kiste.
Dann nahm er einen der Zettel heraus und sagte:
„Ich kann auch warten. Vielleicht kommt er ja wieder.“
Der Sommer ging.
Die Abende wurden kürzer, der Wind roch nach Erde und Abschied.
Aber die Bank blieb.
Sie war mehr geworden als ein Stück Holz.
Sie war ein Ort, an dem Geschichten liegen durften.
Ein Ort, an dem niemand laut sein musste, um gesehen zu werden.
Manchmal saß Ben dort allein.
Manchmal Nele.
Manchmal beide.
Manchmal auch jemand ganz Fremdes.
Aber nie lange fremd.
Ein Jahr nach Oskars Tod veranstaltete das Jugendzentrum einen Gedenktag.
Nicht offiziell.
Keine Bühne.
Kein Rednerpult.
Nur ein Tisch unter der Linde.
Ein Stapel Bücher.
Ein paar Bilder.
Und eine Bank.
Noch immer dieselbe.
Ben las seinen Text vor:
„Ich hatte einen Schlüssel, aber kein Schloss.
Dann setzte sich jemand zu mir und wartete.
Jetzt bin ich das Schloss für die Nächsten.“
Als er geendet hatte, stand niemand auf.
Es war, als wollte niemand den Moment stören.
Nele trat zu ihm.
Sie nahm seine Hand.
Und sagte:
„Oskar wäre stolz. Ich bin es.“
Im nächsten Frühling wurde die Bank erneuert.
Nicht ersetzt sondern stabilisiert.
Ein Tischler aus dem Ort hatte sie gesäubert, geschliffen, geölt.
Am Ende setzte er eine kleine Metallplatte an die Lehne.
Darauf eingraviert:
Für alle, die warten,
und für die, die bleiben.
In Erinnerung an Oskar.
Nele saß an diesem Tag lange dort.
Ein neuer Hund war aufgetaucht.
Keiner, der bellte.
Eher der scheue Typ.
Vielleicht kam er wieder.
Vielleicht auch nicht.
Sie hatte gelernt, nichts zu erzwingen.
Ben kam später dazu.
Setzte sich, ohne zu fragen.
„Weißt du“, sagte er,
„die Menschen denken, sie müssen laut sein, um gehört zu werden.“
Nele sah ihn an.
„Dabei reicht es manchmal, einfach da zu sein.“
Sie nickte.
Dann schloss sie die Augen.
Und ganz tief in sich spürte sie, wie eine leise Pfote ihr Herz berührte.
Nicht aus der Vergangenheit.
Sondern aus allem, was geblieben war.
Manche Freundschaften bellen nicht, sie schweigen mit dir, bis du wieder sprechen kannst.