Teil 5: Der Geburtstag
Blaustein, 17. September 2022 – Lukas wird elf
Der Tag begann mit Licht.
Klara hatte gebacken. Vanillekuchen mit Streuseln.
Der Garten war mit bunten Papiergirlanden geschmückt, die sich im Wind bewegten, als wollten sie tanzen.
Leni lief mit einem kleinen Partyhut herum. Bruno trottete langsam hinterher.
Es war ein schöner Morgen.
Fast zu schön.
Lukas hatte zehn Jungs eingeladen.
Aus der Klasse, vom Fußball, von der Nachbarschaft.
Sie spielten „Schatzsuche“, aßen Würstchen vom Grill, tranken Limo aus Pappbechern mit Dinos drauf.
Bruno hielt sich im Hintergrund.
Er lag unter dem Fliederbusch – dort, wo Lukas oft mit ihm saß.
Aber sein Blick wanderte ständig.
Sein Ohr zuckte, als würde er etwas hören, das für die anderen unsichtbar blieb.
Gegen 16 Uhr kamen Klara und ihr Vater mit einem Überraschungsgeschenk:
Ein neuer Fußball mit den Unterschriften der TSG Hoffenheim.
Lukas riss das Papier auf, lachte – zum ersten Mal an diesem Tag frei und laut.
Dann kam das, was Klara sich ausgedacht hatte:
Ein großer Geburtstagskuchen mit Wunderkerzen.
Dazu ein Trichter, aus dem bunte Luftschlangen schossen.
Die Kinder schrien, lachten, klatschten.
In diesem Moment erstarrte Bruno.
Sein Körper spannte sich.
Sein Rücken senkte sich, die Rute zwischen den Beinen, das eine Auge weit aufgerissen.
Dann stieß er einen Laut aus – kein Bellen, kein Knurren. Ein tiefes, brüchiges Winseln.
Er rannte los – direkt in die Menge.
Sprang über die Tafel, stieß einen Becher um, riss eine Decke mit sich.
Lukas schrie: „Bruno!“
Doch der Hund hörte nicht.
Er stürmte in die Küche, schlitterte über die Fliesen.
Ein brennendes Teelicht war umgefallen – ein Küchentuch begann zu glimmen.
Bruno schnappte es mit dem Maul, schleuderte es in die Spüle, bellte laut.
Dann saß er da. Zitternd.
Mit verkohlten Fasern zwischen den Zähnen.
Die Erwachsenen stürmten herein.
Klara löschte mit Wasser nach.
Jemand lachte nervös.
„Na, der nimmt seinen Job aber ernst!“
Ein anderer sagte:
„Wahrscheinlich vom Tierheim traumatisiert.“
Lukas stand wie versteinert.
Er sah Bruno an.
Der Hund hechelte. Schaute niemanden direkt an.
Nur Lukas. Still. Fragend.
Später saßen sie auf der Treppe hinterm Haus.
Lukas hatte den Ball auf den Schoß gelegt, rührte ihn aber nicht an.
Sein Großvater setzte sich neben ihn, zündete sich eine Zigarette an.
„Das war kein Zufall, oder?“ fragte Lukas.
Der Alte blies den Rauch in den Himmel.
„Nein. Das war eine Reaktion.“
„Auf was?“
„Auf das, was mal war.“
Klara kam wenig später dazu.
Sie trug eine Decke und legte sie um Bruno, der noch immer zitterte.
„Feuer, Lärm, Kinderlachen… Das hat ihn an etwas erinnert.“
Sie sprach nicht weiter.
Aber Lukas verstand.
Manche Erinnerungen brennen sich ein – wie Narben unter dem Fell.
Am Abend, als alle Kinder gegangen waren, räumten sie zusammen.
Papier, Luftballons, leere Becher.
Bruno lag wieder unter dem Fliederbusch, die Schnauze auf den Pfoten.
Leni hatte sich zu ihm gelegt. Ihr Atem war ruhig. Bruno hob nicht mal den Kopf.
Später in der Küche saßen Klara, Lukas und der Großvater bei Tee und übrigem Kuchen.
Klara sah ihren Sohn lange an.
Dann sagte sie:
„Er war ausgebildet. Für so etwas.
Er hat nicht zufällig reagiert. Er hat einen Plan gehabt.
Das heißt: Er war früher für jemanden verantwortlich. Vielleicht für viele.
Und dann wurde er verloren.“
Lukas presste die Lippen zusammen.
In seinem Inneren: ein schwerer, dumpfer Schmerz.
Er ging ins Wohnzimmer.
Setzte sich zu Bruno.
Legte den Kopf auf seinen Rücken.
Und sagte, ganz leise:
„Ich glaube, du gehörst nicht zu uns.
Aber ich will, dass du bleibst.“
Bruno schlug nur einmal mit dem Schwanz.
In der Nacht träumte Lukas von einem Bahnhof.
Menschen in Bewegung.
Ein Hund, der wartet.
Eine alte Frau, die ruft – immer wieder denselben Namen:
„Shadow… Shadow…“
Lukas stand daneben.
Und rief:
„Er heißt Bruno. Und er gehört zu mir!“
Aber keiner hörte ihn.
Am Sonntagmorgen lag ein Umschlag auf dem Tisch.
Mit zitternder Handschrift stand darauf: Margarete Lenz. Ulm.
Darin: ein Bild von einem jüngeren Bruno – mit rotem Halstuch.
Und ein Brief.
„Wenn er noch lebt, dann danken Sie ihm bitte von mir. Ich weiß, er wird den Weg selbst wählen.“
Lukas legte das Bild neben Brunos Futternapf.
Der Hund stupste es mit der Nase an.
Dann drehte er sich um und legte sich wieder hin.