Teil 7: Shadow und Margarete
Blaustein, Samstag – 24. September 2022
Der Morgen war kühl und leicht neblig.
Spinnweben glänzten in den Ecken des Gartenzauns wie vergessene Fäden aus Silber.
Klara war früh aufgestanden. Sie hatte den guten Tee gekocht, die Decke auf den Terrassentisch gelegt, zwei Stühle zurechtgerückt.
Bruno lag bereits draußen.
Sein Kopf ruhte auf den Pfoten.
Er wirkte ruhig, aber wach – als wüsste er, dass heute etwas kommen würde, das er lange gespürt, aber nicht benannt hatte.
Um 10:42 Uhr bog ein alter dunkelblauer Golf in die Einfahrt.
Langsam. Vorsichtig.
Ein kleiner Wagen, wie ihn alleinstehende Menschen fahren.
Er hielt vor dem Garten. Der Motor ging aus.
Niemand stieg sofort aus.
Dann öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite.
Ein Stock wurde sichtbar, dann ein Bein mit brauner Wollhose.
Und schließlich: Margarete Lenz.
Sie war klein, sehr schmal, das Haar zu einem Knoten gebunden.
Ihre Augen lagen tief, eingerahmt von Falten wie feine Wurzeln.
Sie trug eine Bluse mit Kragen, darüber ein grauer Mantel.
In der Hand: eine dünne Leine aus rotem Leder – ohne Hund daran.
Klara ging ihr entgegen.
„Frau Lenz?“
Ein Nicken.
Die Stimme war brüchig, aber fest.
„Ich bin nicht sicher, ob er mich noch kennt.“
Sie gingen gemeinsam zur Terrasse.
Lukas stand hinter dem Fenster, Leni auf dem Arm.
Der Großvater lehnte an der Tür, rauchte nicht.
Bruno hob den Kopf.
Sein Blick wanderte über Klara – zur Fremden.
Er stand auf. Langsam.
Ging zwei Schritte nach vorne. Blieb stehen.
Margarete blieb ebenfalls stehen.
Die Leine in der Hand zitterte leicht.
Dann sagte sie nur ein Wort.
Leise. Nicht befehlend.
Ein Wort, das sie offenbar schon oft gesprochen hatte:
„Shadow?“
Es war, als halte die Welt für einen Moment den Atem an.
Keine Autos. Kein Vogelruf. Kein Wind.
Nur dieses eine Wort, das in der Luft hing wie ein vergessener Duft.
Bruno bewegte sich nicht.
Sein Körper spannte sich leicht.
Dann ein Zittern im rechten Hinterbein – kaum sichtbar.
Er senkte den Kopf.
Ging zwei Schritte.
Dann blieb er wieder stehen.
Margarete schluckte.
Ihre Stimme brach.
„Wenn du’s bist… dann komm zu mir.“
Bruno drehte den Kopf zur Seite.
Sein Blick fiel auf Lukas, der nun auf die Terrasse trat.
Er sagte kein Wort.
Nur das. Nur der Blick. Zwischen Kind und Hund.
Dann geschah es.
Bruno ging langsam auf Margarete zu.
Zögerlich. Schritt für Schritt.
Angehalten von Erinnerungen, gehalten von der Gegenwart.
Er stand vor ihr.
Riechte an ihrer Hand.
Dann – ganz langsam – senkte er den Kopf gegen ihren Oberschenkel.
Ein leises Winseln.
So alt, so menschlich, so verloren.
Margarete legte die Hände um seinen Kopf.
Sie zitterten.
Ihre Lippen bebten, aber sie sagte nichts.
Ihre Stirn ruhte auf seinem Nacken.
Tränen liefen. Nicht viele. Aber ehrlich.
Die Art Tränen, die nur dann kommen, wenn man jemanden zurückbekommt, den man längst innerlich verabschiedet hatte.
Sie standen so mehrere Minuten.
Keiner sprach.
Leni war eingeschlafen auf Klaras Arm.
Der Großvater hatte den Blick gesenkt.
Lukas hatte die Fäuste in den Taschen vergraben – aber nicht aus Wut. Sondern aus Haltlosigkeit.
Dann richtete sich Margarete auf.
Sie streichelte Bruno noch einmal über das Fell.
Ihr Blick war klar.
„Er hat mich erkannt. Aber… er gehört nicht mehr mir.“
Klara sah sie an.
„Woran sehen Sie das?“
Margarete lächelte, ohne die Lippen zu heben.
„Er hat gewählt.
Er hat sich erinnert. Aber nicht losgerissen.
Und das… ist alles, was ich wissen muss.“
Sie setzten sich.
Es gab Tee, leise Stimmen.
Margarete erzählte nicht viel – aber genug.
Dass Shadow ihr Mann war, nach dem Tod ihres echten Mannes.
Dass er sie bei einem Schlaganfall entdeckt hatte – nur weil er auf ihr Zittern reagierte.
Dass sie nach dem Krankenhaus wochenlang überall nach ihm gesucht hatte.
„Ich hab mir eingeredet, er sei gestorben. Das war leichter zu ertragen als der Gedanke, er sei irgendwo und wartet.“
Bruno lag zu ihren Füßen.
Aber sein Blick war auf Lukas gerichtet.
Ein ruhiger Blick.
Kein Hundeblick.
Ein Versprechen.
Als die Uhr zwölf schlug, stand Margarete auf.
„Ich will nicht mehr nehmen als ich bekommen habe.“
Klara reichte ihr den Mantel.
„Wollen Sie… das Halsband mitnehmen?“
Margarete schüttelte den Kopf.
Sie griff in ihre Tasche und zog ein altes, verblichenes Band hervor.
Rot, mit Metallplatte.
Sie las laut:
„You saved me once.“
Dann legte sie es vor Bruno auf die Decke.
„Jetzt darfst du weiter retten.“
Beim Abschied umarmte sie niemanden.
Aber sie legte Lukas die Hand auf die Schulter.
„Er ist alt. Du wirst ihn nicht ewig haben. Aber… du wirst ihn immer spüren.“
Lukas nickte.
Er war still.
Aber in ihm brannte ein Dank, der nicht in Worte passte.
Als sie ging, blickte Bruno dem Wagen nicht nach.
Er legte sich hin.
Schloss das Auge.
Und atmete tief durch – so, als sei ein Kreis geschlossen worden.