Der Hund, der mich zurückbrachte | Sie wollte nie wieder lieben – bis ein alter Hund vor ihrer Tür zusammenbrach

Teil 4: Der Brief vom Nachlassgericht

Es war ein Donnerstagnachmittag Ende November, als der nächste Brief kam.
Helga hatte gerade Aljoschas Medikamente ins Futter gemischt – ein kleiner Trick mit Leberwurst und Haferflocken. Der Hund war noch schwach, doch sein Blick war klarer. Er folgte ihr inzwischen wieder bis zum Briefkasten, langsam, mit leicht wackelndem Hinterlauf. Ein gutes Zeichen, sagte Dr. Köster.

Zwischen Werbeblättern und einer Stromabrechnung steckte ein gelber Umschlag. Schwer, dick, und mit dem offiziellen Aufdruck:
Nachlassgericht Hameln – Persönlich und vertraulich.

Helga stutzte. Manfreds Nachlass war längst abgewickelt. Das Haus war auf sie überschrieben, die Lebensversicherung ausgezahlt. Was konnte das jetzt noch sein?

Im Wohnzimmer riss sie den Umschlag auf. Drinnen: ein offizieller Bescheid, auf beigem Papier. Und ein weiteres, handschriftliches Schreiben – offensichtlich kein amtliches Dokument.

Der Bescheid war nüchtern.

Im Nachgang zu den gesicherten Unterlagen des Erblassers Manfred Mertens hat das Nachlassgericht eine zusätzliche Verfügung entdeckt, die bei Erstöffnung übersehen wurde.

Es handelt sich um ein handschriftliches Vermächtnis, datiert auf den 3. Januar 2018, mit dem Wunsch, dass im Falle des Todes aus einem gesondert gekennzeichneten Sparvertrag Mittel verwendet werden, um die emotionale und seelische Stabilität seiner Ehefrau Helga sicherzustellen.

Das Gericht hat die Verfügung geprüft und erkennt sie gemäß § 2087 BGB als gültig an. Die im Schreiben genannte Bankverbindung wird zur Freigabe angewiesen. Betrag: 3.500 EUR.

Helga starrte auf die Zahl. Dreitausendfünfhundert Euro?

Sie griff nach dem zweiten Dokument. Ein Brief, mit Manfreds Handschrift – vertraut, leicht schräg, blau geschrieben. Der Zettel war gefaltet, die Ecken leicht eingerissen. Die Tinte an manchen Stellen verlaufen.

Meine liebe Helga,

Wenn du diesen Brief liest, bin ich wohl schon auf der anderen Seite des Apfelbaums.

Ich weiß, wie schwer es für dich sein wird, allein weiterzugehen. Deshalb habe ich „etwas zur Seite gelegt“ – kein großes Vermögen, aber vielleicht genug, damit du dir einen kleinen Trost leisten kannst.

Ich wünsche mir, dass du diesen Betrag nur dann nutzt, wenn dir das Herz so weh tut, dass du nachts aufstehst und nicht weißt, warum du noch da bist.

Vielleicht ist es ein kleiner Urlaub. Vielleicht ein Klavierkurs. Oder ein neues Lebewesen, das dir wieder Nähe bringt.

Was auch immer du tust: Lass das Licht nicht ausgehen.

In Liebe,
Dein Manni

Helga las den Brief dreimal. Dann klappte sie ihn vorsichtig zusammen, als wäre er aus Glas.
„Du hast gewusst, dass ich fallen werde“, flüsterte sie. „Und du hast mir ein Netz gebaut.“


Noch am selben Abend saß sie mit einer Tasse Kamillentee am Küchentisch. Aljoscha schlief auf seinem Kissen, warm eingepackt in einer alten Decke. Der Brief lag neben dem Teelicht, das sie jeden Abend für Manfred anzündete.

Sie dachte lange nach.
Über das Wort Trost.
Was war Trost? Eine neue Frisur? Ein Wochenende an der Nordsee? Oder…
Ein Leben, das man nicht geplant hat, aber trotzdem lebt.


Am nächsten Morgen rief sie in der Tierklinik Leipzig an.
Sie bat um die Rechnungskopie, um die Medikamentenliste, um alle Dokumente – nicht nur zur Archivierung, sondern für eine neue Idee.

Dann suchte sie die Telefonnummer der Tierkrankenversicherung, die ihr die HUK empfohlen hatte. Eine Frau mit heller Stimme erklärte ihr geduldig alles: Aufnahmealter, Gesundheitsnachweis, Laufzeiten.
Helga machte sich Notizen. Vieles verstand sie erst beim zweiten Mal. Aber sie fragte. Und sie notierte.


In den nächsten Tagen begann sie, einen Ordner anzulegen.
Titelblatt:
„Aljoschas Herz. Unser Weg.“

Darin:
– Der Befund aus Hannover
– Die OP-Unterlagen aus Leipzig
– Der Versicherungsbrief
– Manfreds handgeschriebene Verfügung
– Ein Foto von Aljoscha vor dem Apfelbaum
– Und ein leerer Abschnitt mit der Überschrift:
“Was wir anderen hinterlassen können.”

Denn plötzlich hatte Helga eine Idee, die größer war als ihre eigenen Sorgen.
Vielleicht konnte man mehr tun, als nur überleben.


Es war eine kalte Winternacht, als sie nicht schlafen konnte. Sie machte das Radio an, leise. Auf NDR Info lief ein Beitrag über Senioren, die sich wieder ein Tier anschaffen – trotz Alter, Krankheit und Geldsorgen.

Ein Interview mit einer Frau aus Bremen, die sagte: „Mein Kater hat mich gerettet. Ich konnte mir ihn nur leisten, weil mein Enkel eine Tier-OP-Versicherung abgeschlossen hat.“

Helga griff zum Telefon.
Sie wählte die Nummer von Frau Köster, der Tierärztin.

„Frau Doktor, wenn ich was tun möchte… für andere Senioren mit Tieren, die krank sind – könnten Sie mir helfen? Ich mein… mit Wissen, und vielleicht auch… mit jemandem von der Praxis, der mitmacht?“

Kurze Pause.

Dann sagte Frau Köster:
„Wenn Sie das wirklich wollen, Frau Mertens… ich bin dabei.“


Zwei Wochen später saß Helga in der Bibliothek der Volkshochschule. Nicht als Teilnehmerin – sondern als Initiatorin eines kleinen Treffens: „Tiere helfen trauern – und wir helfen zurück.“

Fünf Personen waren gekommen. Eine Dame mit Rollator und einem Dackel namens Bruno. Ein älterer Herr mit Hut und einem Papageienfoto im Geldbeutel. Zwei jüngere Frauen, deren Mütter kürzlich verstorben waren. Und eine Sozialarbeiterin.

Helga stellte sich vorne hin. Die Hände zitterten leicht.
Aber ihre Stimme war fest, als sie sagte:

„Ich habe gelernt, dass ein Herz nicht nur schlägt, um zu leben. Sondern um zurückzugeben. Und manchmal kommt der Mut auf vier Pfoten.“


In den kommenden Wochen wuchs das kleine Projekt.
Sie nannten es „Aljoschas Erbe“.
Ein Spendenfonds für Senioren mit kranken Haustieren. Klein, lokal, aber persönlich. Man konnte Anträge stellen. Oder helfen. Oder einfach nur erzählen.

Helga eröffnete ein Sparkonto. Legte von den 3.500 Euro etwas zur Seite. Gab den Rest als Grundstock in den Fonds.
Sie bat um keine Spenden – sie erzählte einfach ihre Geschichte. Und andere begannen, ihre ebenfalls zu erzählen.


Eines Morgens, als der erste Schnee fiel, lag Aljoscha auf dem Sofa. Nicht in seinem Körbchen – sondern direkt auf dem Kissen, das einst Manfreds Platz war.
Er schaute sie an, ruhig, wach.
Helga setzte sich neben ihn, legte ihre Hand auf seine Brust.

Sein Herz schlug.
Langsam.
Aber kraftvoll.

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