Teil 7: Die Nachricht aus Hamburg
Es war spät am Abend, als Helga zum ersten Mal auf die Webseite ging, die ihr Nachbar Fabian liebevoll „Aljoschas Zuhause im Netz“ nannte. Das Layout war schlicht, aber schön – warme Erdtöne, ein Foto von Aljoscha vor dem Apfelbaum, und ihr eigener Text in großer, klarer Schrift.
Sie hatte nicht viel erwartet. Ein paar Klicks vielleicht. Eine Handvoll Leser. Doch als sie den kleinen Button mit der Aufschrift „Nachrichten“ anklickte, stockte ihr der Atem.
17 neue Nachrichten.
Die meisten stammten von Fremden:
„Danke für Ihre Geschichte.“
„Ich habe auch einen alten Hund – jetzt traue ich mich wieder raus.“
„Meine Oma hat geweint beim Lesen.“
Doch eine Nachricht trug einen Namen, den sie nie wieder hatte hören wollen.
Betreff: Erinnerst du dich an mich?
Absender: Petra W. – Hamburg
Helga saß regungslos vor dem Bildschirm.
Petra.
Manfreds Schwester.
Seit über 30 Jahren Funkstille. Seit dem Tag, an dem sie auf der Beerdigung ihres Sohnes nicht erschienen war. Seit dem Streit über Schuld, Nähe, und das, was man in der Familie sagt – oder eben nie sagt.
Sie klickte. Die Nachricht war kurz:
Liebe Helga,
Ich habe durch Zufall von deinem Projekt gelesen – und von Aljoscha. Ich war lange feige. Und still.
Aber vielleicht ist jetzt die Zeit, eine Tür zu öffnen, die wir beide längst zugeschlagen haben.
Ich würde dich gern sehen.
Wenn du das nicht willst, verstehe ich das.
Aber ich habe etwas, das dir gehört.
Liebe Grüße aus Hamburg,
Petra
Helga legte die Hände in den Schoß. Ihr Herz schlug schneller, aber nicht vor Freude – eher vor etwas Unbestimmtem. Eine Mischung aus Wut, Scham und Neugier.
Etwas, das dir gehört.
Was sollte das sein? Ein Brief? Ein Foto? Eine Erklärung? Oder einfach nur ein Vorwand?
In der Nacht schlief sie kaum.
Aljoscha schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Er lag enger an ihr als sonst, hob immer wieder den Kopf und blickte sie wach an.
„Ich weiß es doch auch nicht, mein Junge“, murmelte sie. „Manche Türen… tun weh, wenn man sie aufmacht.“
Am nächsten Morgen schrieb sie zurück.
Petra,
Du hast recht – es ist lange her. Vielleicht zu lange. Aber wenn du wirklich etwas hast, das mir gehört, dann komm.
Aber bitte: keine alten Geschichten, keine Schuldzuweisungen. Ich bin müde von dem, was war. Ich lebe jetzt mit einem Herzen, das gerade erst wieder zu schlagen begonnen hat.
Samstag, 15 Uhr.
Helga
Sie zögerte kurz. Dann fügte sie hinzu:
PS: Bring Tee mit. Ich habe keinen mehr.
Samstag kam.
Der Schnee war geschmolzen, es war nasskalt und grau. Helga stellte zwei Tassen auf den Tisch. Und drei Kekse. Zwei für Petra – einer für sich.
Aljoscha lag auf seinem Platz, seine Ohren zuckten, als das Gartentor knarrte.
Dann klingelte es.
Petra war gealtert. Schlanker geworden. Ihr Haar schneeweiß, zum Zopf gebunden. Sie trug einen grünen Mantel und trug – tatsächlich – eine Tüte mit Tee.
„Himbeere-Ingwer“, sagte sie. „Weiß nicht, ob du so was magst.“
Helga nickte langsam.
„Setz dich.“
Die ersten Minuten vergingen schweigend. Petra sah sich um, blieb an dem Foto auf der Fensterbank hängen.
„Das ist er. Wie immer.“
Helga antwortete nicht.
Petra fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Deswegen…“ – sie griff in ihre Tasche – „… geb ich dir das zuerst.“
Ein Briefumschlag. Gelblich, alt.
Manfreds Handschrift.
Für Helga. Nur über Petra.
Nicht vor dem siebten Dezember.
Helga starrte auf das Datum.
Heute war der siebte Dezember.
Sie öffnete den Umschlag, langsam. Zog ein Blatt heraus. Ihre Hände zitterten leicht.
Meine Helga,
Heute wärst du vielleicht wütend. Oder traurig. Vielleicht beides.
Ich habe diesen Brief geschrieben, weil ich wusste, dass ich dir manches nicht zu sagen wagte. Und ich habe Petra gebeten, ihn dir zu geben – wenn die Zeit reif ist.
Ich weiß, wie sehr dich unser Verlust zerstört hat. Und ich weiß, dass du glaubtest, ich hätte dich nicht verstanden. Aber ich habe dich nie verurteilt. Ich habe dich geliebt. Auch in deinem Schweigen.
Ich habe Petra um etwas gebeten: Sie sollte nach meinem Tod mit dir sprechen. Wenn du wieder einen Hund hast – dann ist das das Zeichen.
Denn ich wusste: Wenn du einem Tier dein Herz gibst, hast du wieder Kraft für Menschen.
Sag ihr nichts. Höre ihr einfach zu. Und wenn du willst – verzeih ihr.
Dein Manni
Helga faltete das Papier langsam zusammen.
Die Tränen kamen ohne Vorwarnung. Nicht wild, nicht laut – sondern langsam, würdevoll, wie Tropfen auf altem Stein.
„Er hat es gewusst“, sagte sie leise. „Dass ich zurückkomme.“
Petra nickte.
„Ich habe so lange gebraucht, um den Mut zu finden.“
„Warum?“, fragte Helga.
Petra sah sie an. Ihre Stimme war brüchig.
„Weil ich es nicht ertragen habe, dass ich nichts sagen konnte, als euer Sohn starb. Weil ich Angst hatte, du würdest mich hassen. Und weil… weil ich mich selbst gehasst habe. Für mein Schweigen.“
Helga sah sie lange an. Dann stand sie auf, holte zwei Tassen, goss Tee ein.
„Er wollte, dass ich zuhöre“, sagte sie schließlich.
„Also fang an.“
Sie redeten fast drei Stunden. Nicht über alles – aber über genug. Über Manfreds Mittlerrolle. Über Erinnerungen, die weh taten. Über das, was blieb.
Als Petra ging, streichelte sie kurz Aljoschas Kopf.
„Schön, dass du sie zurückgebracht hast“, flüsterte sie.
Und Aljoscha, der sonst bei Fremden immer zögerte, leckte ihr sacht über die Finger.