Teil 9: Der Moment in der Bibliothek
Es war ein kalter Januarmorgen, als Helga, Petra und Aljoscha vor der Stadtbibliothek in Bad Pyrmont standen. Der Schnee war mittlerweile zu schmutzigen Rändern zusammengeschmolzen, aber in Helgas Brust lag ein Gefühl von Neuanfang – wie der erste Satz nach langem Schweigen.
Drinnen war es warm, nach Papier und Heizungsluft duftend. Der kleine Vortragsraum war liebevoll vorbereitet: Klappstühle in Halbmonden, eine Thermoskanne mit Tee auf dem Tisch, eine Spendenbox mit der Aufschrift:
„Aljoschas Erbe – Damit Herzen nicht aufgeben müssen.“
Petra trug ein schlichtes dunkelblaues Kleid, Helga ihren besten Wollpullover – der mit den eingenähten Ellenbogen, die Manfred ihr zum 40. Geburtstag gestopft hatte. Aljoscha lag brav unter dem Pult, die neue Hundemarke glänzte im Licht der Stehlampe.
Etwa dreißig Personen waren gekommen. Junge Mütter, ein älteres Ehepaar mit Rollator, ein Mann mit Augenklappe und einem Minihund im Tragetuch. Und Fabian, ihr Nachbar, stand am Rand und hielt sein Handy bereit – für Facebook, „damit es alle sehen können“.
Helga trat nach vorne. Die Hände zitterten nicht – zum ersten Mal seit Jahren.
Sie las aus dem kleinen Heft vor, das sie mit Petra gestaltet hatte.
Sie erzählte von dem Tag, an dem Aljoscha vor ihrer Tür lag. Von der Entscheidung, Geld auszugeben, das eigentlich für nichts mehr gedacht war.
Von Manfreds Briefen. Und von der Stille, die endlich ein Zuhause gefunden hatte.
Die Zuhörer waren still. Es war diese Art von Stille, in der kein Husten, kein Räuspern, kein Handy stört. Nur Zuhören. Nur Atmen.
Helga sah auf.
In vielen Augen blinkte es.
„Ich weiß nicht, ob wir damit die Welt verändern“, sagte sie.
„Aber wir können vielleicht ein Herz retten. Eines nach dem anderen.“
Dann sollte Petra sprechen. Sie trat nach vorn, holte Luft – und in diesem Moment passierte es.
Aljoscha stöhnte kurz auf, stand auf – und fiel um.
Mit einem dumpfen Schlag lag er auf der Seite. Zuckte.
Helga war sofort bei ihm.
„Aljoscha!“ rief sie, kniete sich hin. Petra warf das Mikrofon zur Seite, sprang herbei.
Ein Mann aus dem Publikum kam dazu.
„Ich bin Tierarzt!“, sagte er laut. „Lassen Sie mich durch!“
Helga wich zurück. Ihr Herz raste.
„Nicht jetzt. Nicht heute“, flüsterte sie.
„Bitte, Manni… nicht heute.“
Der Mann untersuchte Aljoscha rasch, tastete die Atmung, das Herz.
„Er lebt“, sagte er. „Kreislaufschwäche. Vielleicht zu viel Trubel. Er braucht Ruhe. Jetzt.“
Petra holte eine Decke. Zusammen hoben sie den Hund vorsichtig auf ein Kissen. Helga streichelte seine Pfote, die kaum spürbar zuckte.
„Ich fahr ihn heim“, sagte sie. „Ich bleib bei ihm.“
Petra übernahm das Mikrofon. Ihre Stimme zitterte, aber sie stand aufrecht.
„Das hier war ein Moment, wie ihn viele kennen: plötzliche Angst, das Herz bricht. Aber genau deswegen tun wir das. Weil Tiere keine Stimme haben. Aber weil sie alles fühlen. Und weil Liebe manchmal vier Pfoten hat.“
Helga verbrachte den Rest des Tages an Aljoschas Seite. Zuhause, auf dem Sofa. Der Tierarzt hatte ihm ein Kreislaufmittel dagelassen, sie gab es ihm mit einem Löffel Wasser. Er schlief viel. Die Atmung war flach, aber gleichmäßig.
Sie las ihm leise vor. Aus dem kleinen Heft, das sie selbst geschrieben hatte.
„Wenn du denkst, du hast nichts mehr zu geben – dann gib einfach Nähe. Sie ist kostenlos. Aber unbezahlbar.“
Am Abend schrieb sie Mira Landt eine kurze Nachricht:
„Aljoscha hatte einen Zusammenbruch. Aber er kämpft. Wie immer. Ich denke, das war sein Weg, uns zu zeigen, dass das alles wirklich zählt.“
Zwei Tage später ging es ihm besser.
Langsam stand er wieder auf. Folgte ihr zur Tür. Nahm vorsichtig einen Keks an.
Die Spendendose in der Bibliothek hatte über 800 Euro gebracht. Fabian meldete sich und sagte:
„Online sind’s schon über 1.200 Euro. Die Leute schreiben Kommentare wie verrückt.“
Helga las die ersten zwanzig. Dann musste sie aufhören – nicht, weil sie zu viel waren, sondern weil sie zu nah gingen.
„Mein Hund hieß auch Aljoscha. Danke für Ihre Geschichte.“
„Meine Mutter war wie Sie – sie hätte das lesen sollen.“
„Ich hab geweint. Und dann gespendet.“
Am Abend saßen sie wieder zu zweit. Helga und Aljoscha.
Der Schnee kam zurück – feiner Staub, der das Fensterglas streichelte.
Helga nahm die Hundemarke vom Haken und hielt sie ins Licht.
Dann flüsterte sie:
„Du bist mehr als ein Hund.
Du bist der letzte Satz in meinem alten Buch –
und der erste Satz im neuen.“