🐾 Teil 4: Was geschieht, wenn ein stummer Hund plötzlich träumt, dass er gehört wird?
Der Morgen begann mit Stille.
Nicht der bedrückenden, die Karl einst gefürchtet hatte. Es war eine ruhige, warme Stille.
Draußen war die Landschaft weiß überzogen, der Frost hatte jede Tannennadel mit einem Hauch von Silber verziert.
Karl saß am Fenster, Nora lag zusammengerollt auf dem Teppich.
Er hatte kaum geschlafen.
Nicht wegen Angst, nicht wegen Schmerzen.
Wegen dem Laut.
Dem einen, kurzen Bellen aus der Nacht, das in seinem Innersten nachhallte wie ein Echo aus einem anderen Leben.
War es nur ein Traum gewesen?
Oder hatte Nora wirklich versucht, sich zu äußern?
Er betrachtete sie, wie sie ruhig atmete, das Fell leicht zuckte im Schlaf.
Wenn sie gesprochen hätte, was hätte sie wohl gesagt?
Die Frage war absurd – und doch ließ sie ihn nicht los.
Emma kam nachmittags, wie fast immer.
Sie brachte einen Schal für Nora mit. Grau mit roten Streifen, gestrickt von ihrer Großmutter.
„Der ist nicht modisch, aber warm“, sagte sie und kniete sich zu der Hündin.
Nora ließ es sich gefallen, bewegte sich kein bisschen.
„Du bist schön“, flüsterte Emma.
Karl räusperte sich.
„Sie… hat gebellt“, sagte er.
Emma sah überrascht auf.
„Was meinst du?“
„Letzte Nacht.“
„Wirklich? Oder nur im Traum?“
Karl zuckte die Schultern.
„Ich weiß es nicht. Aber ich hab’s gehört.“
Emma nickte langsam. Dann sah sie Nora an.
„Vielleicht fängt sie an, sich zu erinnern.“
Am Abend holte Karl ein neues Blatt Papier hervor.
Er malte.
Nicht gut, nicht ordentlich, aber mit Gefühl.
Ein Wald. Ein Zaun. Dahinter eine kleine Gestalt mit einem Stofftier in der Hand.
Und davor ein Hund, sitzend, ruhig, mit aufgerichteten Ohren.
Nora.
Die Zeichnung war roh. Fast kindlich.
Aber sie zeigte etwas, das Worte nicht konnten: eine Erinnerung, die nicht seine war.
In den folgenden Tagen begann Karl, regelmäßig mit Nora hinauszugehen.
Nicht nur in den Garten, sondern in den Wald hinter dem Dorf.
Er nahm einen Stock mit, auf den er sich stützen konnte.
Nora lief voraus, aber nie zu weit.
Immer wieder drehte sie sich um, wartete, schaute, ob er noch folgte.
Der Schnee knirschte unter ihren Pfoten, leise, rhythmisch.
Ein Laut, der fast wie Musik klang.
Eines Morgens führte sie ihn einen anderen Pfad entlang.
Nicht den breiten Weg zur Lichtung, sondern einen schmalen Trampelpfad zwischen Brombeersträuchern.
Karl zögerte.
Aber Nora blieb stehen, sah ihn an, als wollte sie sagen: Nur Mut.
Er ging weiter. Schritt für Schritt.
Nach zehn Minuten standen sie vor einem halb verfallenen Schuppen.
Die Tür hing schief, das Dach war eingefallen.
Aber an der Wand war etwas eingeritzt.
Ein Name.
LENA
Karl trat näher.
Unter dem Namen: ein Herz.
Und darunter: + NORA
Die Buchstaben waren krumm, mit einem spitzen Gegenstand hineingekratzt.
Emma wäre begeistert, dachte er.
Ein Geheimnis. Eine Spur.
Er zog sein Notizbuch hervor, schrieb den Namen ab.
Dann sah er zu Nora.
Sie saß still neben ihm.
Nicht aufgeregt. Nicht traurig.
Nur… präsent.
Wie jemand, der sich erinnert, ohne weinen zu müssen.
Am Abend zeigte er Emma die Notiz.
„Lena?“, fragte sie.
„Ein Mädchen. Vielleicht die, die den Fuchs versteckt hat.“
Emma nickte.
„Wir können in der Schule nachfragen. Oder beim Pfarrer. Der kennt alle Kinder aus den letzten zwanzig Jahren.“
Karl hob anerkennend die Augenbrauen.
Sie war klug, dieses Mädchen.
Und voller Herz.
Zwei Tage später kam Emma mit Neuigkeiten.
„Es gab eine Lena, die vor etwa vier Jahren hier war. Pflegekind. Ist dann wieder weggezogen. Niemand weiß wohin.“
Karl las es auf dem Zettel, den sie ihm reichte.
„Aber ich hab ein altes Klassenfoto gefunden. Guck.“
Sie hielt ihm das Bild hin.
Ein Dutzend Kinder, darunter ein blondes Mädchen mit Sommersprossen.
Und daneben: ein Hund.
Nora.
Eindeutig.
Jünger, das Fell heller, aber der Blick derselbe.
Ruhig. Wach. Tief.
Karl saß lange vor dem Foto.
Er sagte nichts.
Aber Emma wusste, was er dachte.
„Sie hat mal jemandem gehört“, flüsterte sie.
„Und sie wurde nicht vergessen.“
An diesem Abend spielte Karl am Klavier.
Nicht die alten Lieder.
Etwas Neues.
Langsam, suchend.
Nora lag zu seinen Füßen.
Aber diesmal hob sie den Kopf, als wäre sie selbst Teil der Melodie.
Karl spielte weiter.
Nicht perfekt, aber mit Gefühl.
Dann sprach er.
Nur ein Wort.
„Heimat.“
In der Nacht träumte er.
Von einem Mädchen, das im Schnee kniete.
Von einem Hund, der leise zu ihr lief.
Und von einer Stimme – seiner eigenen – die sagte:
„Du bist nicht verloren.“
Als er aufwachte, war es noch dunkel.
Nora lag neben dem Bett, den Kopf auf seiner Decke.
Und draußen, hinter dem Fenster, sah er etwas.
Eine kleine Figur.
Mit roter Mütze.
Und einem Fuchs in der Hand.