🐾 Teil 5: Manche Gestalten verschwinden, aber ihre Schatten bleiben in unseren Träumen
Am Morgen war der Garten leer.
Kein Mädchen mit Mütze. Kein Fuchs. Nur Spuren im Schnee, kaum sichtbar, verwischt vom Nachtwind.
Karl stand lange an der Tür.
Die Klinke kühl in der Hand, das Herz noch schwer vom Traum.
War es wirklich ein Traum gewesen?
Oder hatte Lena – wenn es Lena war – ihn tatsächlich aufgesucht?
Nora kam von hinten, schob ihre Schnauze gegen seine Wade.
Sie drängte nicht. Sie wartete.
So wie sie es immer tat.
Karl und Nora gingen den gleichen Weg wie am Vortag.
Vorbei an der alten Weide, über das gefrorene Feld, durch den dichten Tannenwald.
Der Schuppen war unverändert.
Aber auf dem Herz an der Wand war eine frische Linie eingeritzt worden.
Eine kleine Schleife, am oberen Rand.
Karl streichelte das kalte Holz.
Lena war da gewesen.
Nicht nur in seinem Traum.
Emma hörte aufmerksam zu, als Karl ihr davon erzählte.
Er sprach in kurzen Sätzen, mit langen Pausen.
Aber sie verstand jedes Wort.
„Wenn sie wieder da ist, dann sucht sie Nora. Das ist klar.“
Karl nickte.
„Aber warum kommt sie nicht richtig?“
Emma zuckte die Schultern.
„Vielleicht traut sie sich nicht. Vielleicht will sie nur schauen, ob es Nora gut geht.“
Sie beugte sich hinunter zu der Hündin, die döste.
„Du musst ihr zeigen, dass du glücklich bist.“
Nora öffnete die Augen, gähnte geräuschlos und stupste Emma leicht mit der Nase.
Eine Antwort, wie nur sie sie geben konnte.
In der darauffolgenden Woche schneite es heftig.
Dorfstraßen verschwanden unter weißen Decken, der Schulbus blieb zweimal stehen, und sogar die Kirche sagte den Gottesdienst ab.
Karl nutzte die Zeit, um alte Kisten zu durchstöbern.
Darin: Fotos, Notenblätter, Briefe aus seiner Jugend.
Aber auch zwei Tonaufnahmen, die er fast vergessen hatte.
Auf einer hörte man seine Frau singen.
Leise, klar, mit einem Hauch Melancholie.
Er spielte sie Nora vor.
Sie hörte aufmerksam zu, als würde sie verstehen, dass es hier um mehr ging als nur Klang.
Emma kam mit der Idee, ein kleines Konzert zu machen.
„Nur für uns. Hier im Wohnzimmer. Du spielst, ich lese was vor, und Nora ist unser Publikum.“
Karl lachte leise.
Er mochte die Idee.
Etwas in ihm lebte auf, wenn Emma im Raum war.
Sie brachte Leben, Wärme und das Gefühl, nicht vergessen zu sein.
Sie bastelten Einladungskarten für sich selbst.
„Konzert der Stille“, stand darauf.
Karl übte jeden Abend.
Nicht perfekt, aber mit Herz.
Emma schrieb einen Text über Freundschaft ohne Worte.
Und Nora?
Sie war einfach da.
Mit ihrer stillen Präsenz, ihrer ruhigen Wachsamkeit.
Mehr brauchte es nicht.
Am Tag des Konzerts stellten sie drei Stühle auf.
Einen für Karl, einen für Emma, und einen leeren.
Für Lena.
Nur für den Fall.
Sie wussten beide, dass sie wahrscheinlich nicht kommen würde.
Aber manchmal reicht Hoffnung.
Karl spielte zwei Stücke.
Ein ruhiges, langsames. Und eines, das er neu geschrieben hatte.
Nora legte sich davor, die Pfoten ausgestreckt, die Augen halb geschlossen.
Emma las.
Ihr Text war einfach, klar und ehrlich.
Über ein Mädchen, das einen Hund nicht mit nach Hause nehmen durfte, aber ihn nie vergaß.
Und über einen Hund, der nie sprach, aber alles sagte.
Als sie fertig waren, klatschte niemand.
Es war nicht nötig.
Draußen wehte Wind.
Und dann – ein dumpfer Ton gegen die Fensterscheibe.
Emma schrak hoch.
Karl stand langsam auf, ging zur Tür.
Nora blieb liegen, als ob sie wüsste, was kommen würde.
Vor der Tür: ein kleiner Karton.
Obenauf: der Stofffuchs.
Daneben ein Zettel.
„Danke. Sie braucht keinen Lärm. Sie hat Euch.“
Emma las den Zettel laut vor.
Dann legte sie ihn behutsam auf das Klavier.
Karl schloss die Tür.
Nora stand nun doch auf, trat zum Karton, schnupperte daran, leckte über den Fuchs.
Und dann sah sie Karl an.
Ein Blick, der mehr sagte als jedes Wort.
Sie wusste, wer ihn gebracht hatte.
Und sie wusste, dass sie bleiben durfte.
Später am Abend zündete Karl eine Kerze an.
Er stellte sie ans Fensterbrett.
Emma sagte:
„Das ist unser Lichtzeichen. Wenn Lena noch mal kommt, wird sie wissen, dass sie willkommen ist.“
Karl nickte.
Die Kerze flackerte ruhig gegen das Dunkel.
Und über dem Dach des Hauses flogen lautlos Schneeflocken, wie kleine, stumme Briefe aus einer anderen Zeit.
In der Nacht bewegte sich Nora unruhig im Schlaf.
Sie träumte.
Die Pfoten zuckten.
Der Atem wurde schneller.
Dann, ganz kurz, entwich ein Laut.
Kein Bellen.
Eher ein gepresstes Aufatmen.
Und Karl, der neben ihr lag, spürte, wie seine Hand ganz von selbst nach ihr griff.
Nicht, um sie zu beruhigen.
Sondern um ihr zu sagen:
Ich bin da.