🐾 Teil 6: Wenn etwas tief genug sitzt, muss es nicht laut sein, um gehört zu werden
Der Winter hielt Falkenried noch immer fest im Griff.
Die Straßen waren vereist, die Bäume schwer vom Schnee, und selbst die Vögel schienen leiser als sonst zu singen.
Karl stand morgens länger am Fenster.
Nicht aus Gewohnheit.
Sondern aus Hoffnung.
Hoffnung, dass vielleicht doch noch einmal jemand am Gartenzaun auftauchte.
Ein Mädchen mit roter Mütze.
Mit den gleichen Augen wie Nora.
Aber die Tage vergingen, und niemand kam.
Nora wirkte ruhiger in diesen Wochen.
Fast, als hätte der Karton vor der Tür etwas in ihr gelöst.
Sie fraß mit mehr Appetit.
Lief freudiger voraus auf den Spaziergängen.
Schüttelte sich im Schnee, dass es staubte.
Und manchmal, wenn Karl spielte, legte sie den Kopf auf seine Knie als wäre die Musik nicht nur für die Ohren, sondern auch für ihr Herz.
Karl spürte es.
Diese Hündin heilte nicht ihn.
Sie heilten sich gegenseitig.
Emma kam seltener.
Nicht aus Desinteresse.
Sondern weil das Leben sie rief.
Schule, Hausaufgaben, ein kleiner Job im Dorfladen.
Aber jedes Mal, wenn sie kam, war es wie ein Fest.
Sie brachte frisches Brot, Geschichten aus der Schule und ein warmes Lächeln.
Karl sprach inzwischen mehr.
Noch immer langsam, oft mit Pausen.
Aber seine Stimme war da.
Und wenn sie stockte, war Emma geduldig.
Und Nora wartete einfach still.
Wie sie es immer tat.
Eines Abends saßen sie zu dritt am Ofen.
Emma strickte.
Karl schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt, das später vielleicht ein Lied werden sollte.
Nora schlief.
Dann sagte Emma:
„Ich hab geträumt, dass Lena wiederkommt.“
Karl blickte auf.
„Und?“
„Sie war älter. Hatte kurze Haare. Und sie hat Nora angesehen, als würde sie sich erinnern, aber nicht sicher sein.“
Sie legte die Wolle zur Seite.
„Manche Menschen vergessen, um zu überleben. Aber manche erinnern sich leise.“
Karl schrieb einen Satz auf:
„Die Erinnerung spricht nicht laut.“
Am nächsten Tag fiel Tau.
Der Schnee schmolz langsam, die Wege wurden matschig.
Der erste Vorbote des Frühlings, auch wenn der Winter sich noch nicht geschlagen gab.
Karl und Nora gingen wieder zum Schuppen.
Die eingeritzten Namen waren verblasst, aber noch da.
Und daneben neu:
Ein Papier.
Festgesteckt mit einem rostigen Nagel.
Karl zog es ab.
Zittrig.
Darauf nur drei Worte:
„Ich war hier.“
Keine Unterschrift.
Aber unten, in der Ecke, das kleine Symbol eines Fuchskopfes.
Gemalt mit rotem Filzstift.
Er zeigte Emma den Zettel.
Sie starrte ihn lange an.
„Sie beobachtet uns. Schaut, wie es Nora geht.“
Karl nickte.
Dann, nach einer Weile:
„Sie darf kommen. Immer.“
Emma überlegte.
„Was wäre, wenn sie glaubt, sie stört?“
Karl antwortete nicht.
Aber sein Blick wurde fest.
Noch am selben Abend bastelten sie ein Schild.
Nicht groß.
Aber klar.
„Lena – du bist willkommen. Nora wartet.“
Sie hängten es ans Gartentor.
Gut sichtbar.
Nicht nur für die, die es lesen konnten.
Sondern auch für die, die sehen wollten.
In den nächsten Tagen geschah nichts.
Keine Spuren. Kein Fuchs. Keine Nachrichten.
Aber Karl spürte, dass etwas in Bewegung war.
Die Luft war anders.
Der Himmel heller.
Und Nora… Nora schien aufmerksamer denn je.
Sie hörte auf jedes Knacken.
Starrte länger in Richtungen, in denen niemand stand.
Und immer, wenn sie draußen war, legte sie sich kurz ans Gartentor, als wollte sie Wache halten.
Oder hoffen.
Dann kam der Sonntag.
Es war früher Nachmittag.
Die Kirche hatte gerade ausgeläutet.
Karl räumte gerade die Teetassen weg, als Nora plötzlich zur Tür lief.
Kein Laut.
Nur entschlossenes Gehen.
Er folgte ihr.
Langsam, mit klopfendem Herzen.
Sie blieb an der Tür stehen.
Nicht drängend.
Nicht aufgeregt.
Nur wartend.
Karl öffnete.
Draußen stand ein Mädchen.
Kein Kind mehr.
Etwa sechzehn, siebzehn vielleicht.
Dunkle Jacke, Rucksack auf dem Rücken, Mütze in der Hand.
Die Haare kurz geschnitten.
Die Augen weit.
Sie sagte nichts.
Karl auch nicht.
Nora trat vor.
Zögerlich, schnupperte.
Dann blieb sie stehen.
Das Mädchen kniete sich hin.
Langsam.
Zog etwas aus der Jackentasche.
Den Stofffuchs.
Nora sah ihn.
Dann leckte sie einmal über Lenas Hand.
Und blieb stehen.
So, als hätte die Zeit sie nie getrennt.
Karl trat einen Schritt zurück.
Gab den Blick frei ins Haus.
Lena stand auf.
Noch immer ohne ein Wort.
Dann sagte sie:
„Ich dachte, sie hasst mich.“
Karl schüttelte den Kopf.
Und flüsterte:
„Sie hat gewartet.“
Lena sah ihn an.
Tränen standen in ihren Augen.
Aber sie weinte nicht.
Nora stupste sie noch einmal an.
Dann drehte sie sich um und lief ins Haus.
Als wäre sie nie fort gewesen.
An diesem Abend saßen sie zu dritt am Tisch.
Karl, Lena, Nora.
Emma kam später, brachte Kuchen und fragte nichts.
Sie redeten nicht viel.
Aber das Schweigen war leicht.
Nicht bedrückend.
Sondern wie ein tiefer Atemzug nach langer Enge.
Und Karl wusste:
Manchmal braucht es keine Worte.
Nur ein warmes Haus.
Ein stilles Tier.
Und ein Herz, das offen bleibt.