🐾 Teil 4: Begegnung am Apfelbaum
Die Tage nach der flüsternden Stimme waren schwer wie Blei. Johanna konnte sich kaum auf das Alltägliche konzentrieren. Alles drehte sich um den Garten, den Hund, das Heft und die Gestalt im Nebel. Sie ging nur noch selten ins Dorf, ließ den Laden links liegen und nahm einfache Mahlzeiten aus dem, was sie im Haus hatte. Ihre Welt war kleiner geworden, konzentriert auf den verwilderten Apfelgarten, in dem sich die Vergangenheit meldete wie ein alter Freund, der nicht loslassen wollte.
Der Hund wich ihr kaum noch von der Seite. Er schlief auf der Veranda, folgte ihr langsam durch den Garten, wartete am Brunnen, wenn sie Wasser schöpfte. In seiner Stille lag Trost, doch manchmal auch eine Frage, die sie nicht beantworten konnte. Abends legte er den Kopf auf ihre Füße, und sie strich über das Fell, während sie ins Dunkel starrte und darauf wartete, dass der Schatten zurückkehren würde.
Es geschah an einem Sonntag, als die Glocken von Bischofswerda durch die klare Herbstluft läuteten. Johanna stand am Gartenzaun, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, als sie Schritte hörte. Diesmal waren sie nicht vorsichtig, nicht verstohlen. Sie waren klar, bestimmt, als wolle jemand gesehen werden.
Zwischen den Apfelbäumen trat ein Mann hervor. Er war hochgewachsen, aber hager, das Gesicht schmal, eingefallen, der Bart ungleichmäßig gewachsen. Sein Haar war grau an den Schläfen, die Augen dunkel, müde und doch aufmerksam. Er trug eine alte, abgetragene Jacke, die mehr Flickstellen als Stoff zeigte.
Johanna hielt den Atem an.
Der Hund bewegte sich nicht, blieb einfach an ihrer Seite und fixierte den Mann mit stiller Wachsamkeit.
„Sie haben es also gefunden“, sagte der Mann, und seine Stimme war rau wie Stein auf Stein.
„Das Heft?“ fragte Johanna.
Er nickte. „Es war nicht für Sie bestimmt. Und doch… vielleicht doch nur für Sie.“
Johanna suchte in seinem Gesicht, suchte nach Spuren der Jugend, nach dem Blick eines Schülers, den sie einmal gekannt hatte. Und plötzlich sah sie es. Einen Hauch, kaum mehr als eine Erinnerung, aber genug, um ihr Herz zu treffen.
„Arved?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Der Mann senkte den Blick, als könne er die Frage nicht ertragen. Dann nickte er langsam.
Johanna griff nach dem Gartenzaun, weil ihre Beine schwach wurden. „Aber… wo warst du? All die Jahre?“
Arved lachte leise, ein Lachen ohne Freude. „Nirgends. Überall. Ich habe versucht, wegzugehen, aber manche Orte lassen einen nicht los. Manche Lehrer auch nicht.“
Die Worte trafen sie tiefer, als sie erwartet hätte.
„Du bist verschwunden, ohne ein Wort. Kein Abschied. Kein Tschüss.“
„Ich konnte nicht“, sagte er und sah sie endlich an. „Ich wollte, aber ich wusste nicht, wie. Ich hatte nichts, was ich hätte sagen können. Und dann war es zu spät.“
Sie spürte Tränen in den Augen, wollte sie zurückhalten, doch sie liefen trotzdem. „Du hättest mir alles sagen können. Auch das Schweigen hätte genügt, wenn du nur geblieben wärst.“
Arved trat näher, langsam, unsicher, wie jemand, der nicht weiß, ob er willkommen ist. Der Hund machte einen Schritt zur Seite, ließ ihn durch. Johanna sah die Narbe an seinem Kinn, frisch verheilt, und die Müdigkeit in seinen Bewegungen.
„Der Hund“, sagte sie stockend. „Er gehört zu dir.“
Arved nickte. „Er hat mich gefunden, nicht umgekehrt. Ich weiß nicht, warum er immer wieder in deinen Garten läuft. Vielleicht will er dir etwas zeigen. Vielleicht will er mich zurückbringen.“
Johanna sah den Hund an, der still und wachsam zwischen ihnen stand. „Er bringt mich zu dir.“
Eine Weile schwiegen sie beide. Nur der Wind bewegte die Äste der Bäume, ließ Äpfel zu Boden fallen, schwer und süß.
Dann fragte Johanna: „Warum jetzt? Warum kommst du zurück?“
Arved schloss die Augen, als koste ihn die Antwort mehr Kraft, als er hatte. „Weil die Zeit nicht ewig schweigt. Und weil ich es dir schuldig bin.“
„Was bist du mir schuldig?“
Er öffnete die Augen wieder. „Eine Erklärung. Vielleicht ein Abschied. Vielleicht beides.“
Die Worte hingen schwer in der Luft. Johanna fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie hatte so lange auf ein Zeichen gewartet, ohne es zu wissen. Und nun stand er da, gealtert, gezeichnet vom Leben, und doch unverkennbar der Junge, der ihr nie Lebewohl gesagt hatte.
Sie wollte ihn fragen, wohin er gegangen war, warum er geflohen war, was ihn zurückgebracht hatte. Doch sie merkte, dass er an diesem Tag nicht mehr sagen würde. Sein Gesicht war müde, die Schultern hingen, als trüge er Lasten, die nicht an einem Abend abgeworfen werden konnten.
„Komm morgen wieder“, sagte sie schließlich. „Der Garten vergisst nicht, und ich auch nicht.“
Arved nickte. „Wenn der Hund es erlaubt.“
Er drehte sich um, ging durch den Nebel, bis er verschwunden war.
Johanna stand lange da, unfähig, sich zu bewegen. Sie hörte das ferne Läuten der Glocken, das langsam verklang.
Der Hund setzte sich neben sie, und sie legte die Hand auf seinen Kopf. „Du hast ihn zurückgebracht“, flüsterte sie.
Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass mit der Rückkehr nicht nur Antworten, sondern auch neue Wunden kamen.
Als sie später ins Haus ging, fand sie auf dem Küchentisch etwas, das dort zuvor nicht gelegen hatte. Eine kleine Schachtel aus Blech, alt und verbeult. Sie öffnete sie vorsichtig. Darin lag ein Foto, vergilbt, von einer Schulausfahrt im Jahr 1986. Kinder lachten in die Kamera, und am Rand stand Arved, mit gesenktem Blick.
Auf der Rückseite stand in krakeliger Schrift: „Damit Sie mich nicht vergessen.“
Johanna presste die Schachtel an die Brust. Draußen bellte der Hund einmal, tief und lang, als Zeichen, dass die Nacht begann.
Und sie wusste, dass die nächste Begegnung nicht nur Erinnerung, sondern Wahrheit bringen würde.