🐾 Teil 6: Die Last der Jahre
Der Oktober legte sich kühl und golden über die Felder, und die Bäume im Garten trugen ihre letzten Früchte wie kleine Laternen. Johanna stand früh auf, als die Sonne kaum die Dächer berührte, und ging hinaus, den Schal fest um die Schultern geschlungen. Sie erwartete Arved, so wie an den Tagen zuvor, und doch war in ihr eine Unruhe, die sie nicht benennen konnte.
Der Hund war schon wach, seine bernsteinfarbenen Augen ruhten auf ihr, als wüsste er, dass der Tag mehr bringen würde als die Stille des Gartens.
Es dauerte nicht lange, da hörte sie Schritte auf dem Kiesweg. Arved kam, langsamer als sonst, der Blick gesenkt, die Hände tief in den Taschen vergraben. Sein Gesicht wirkte noch schmaler, die Wangen eingefallen, als habe die Nacht ihn ausgelaugt.
„Sie sind da“, sagte Johanna leise.
„Ich habe es versprochen.“ Seine Stimme war heiser, als habe er die ganze Nacht geschwiegen.
Sie setzten sich auf die Bank unter dem Apfelbaum. Eine Weile hörten sie nur das Rascheln der Blätter, das entfernte Läuten der Kirchenglocken, das ferne Krähen eines Hahns.
„Sie wollen wissen, warum ich so lange geschwiegen habe“, begann Arved schließlich.
Johanna nickte.
„Es war nicht nur mein Vater“, fuhr er fort. „Obwohl er der Anfang war. Nach jener Nacht bin ich fortgelaufen. Ich schlief in Scheunen, auf Dachböden, manchmal bei Freunden, die nicht zu viel fragten. Aber irgendwann reichte das nicht mehr. Ich brauchte Geld, ich brauchte einen Platz, den ich meinen nennen konnte. Und ich habe Dinge getan, die ich nie tun wollte.“
Johanna sah ihn an, spürte die Schwere in seinen Worten. „Welche Dinge?“
Er schwieg lange, bevor er weitersprach. „Die Jahre nach der Wende waren chaotisch. Alles war möglich, alles erlaubt, wenn man es wagte. Ich habe mich treiben lassen. Ich bin in Kreise geraten, die mir keinen Ausweg mehr ließen. Transporte, kleine Geschäfte, die niemand sehen sollte. Später waren es größere Dinge. Manchmal nur ein Blick wegschauen, manchmal ein Koffer, den man nicht öffnen durfte. Ich habe nie gefragt, weil ich Angst hatte vor der Antwort.“
Johanna spürte, wie die Luft im Garten kälter wurde. „Und dann?“
„Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich bin zurückgekommen, heimlich, wie ein Dieb. Ich habe mich in den Wäldern verborgen, am Rand der Stadt, habe gearbeitet, wo man keine Fragen stellte. Und immer wieder bin ich hierhergekommen, zu Ihrem Garten. Ich wollte… ich wollte sehen, ob die Vergangenheit noch lebt. Und sie lebt. Sie sitzt vor mir.“
Johannas Hände lagen still in ihrem Schoß. Sie hörte das Zittern in seiner Stimme, den Kampf zwischen Schuld und Sehnsucht.
„Warum hast du dich nie gezeigt?“
Arved sah sie an, und in seinen Augen lag eine Müdigkeit, die tiefer war als alle Worte. „Weil ich nicht wusste, ob Sie mir noch in die Augen sehen könnten. Ich war nicht mehr der Schüler, der Ihnen Aufsätze geschrieben hat. Ich war jemand, der zu viel gesehen, zu viel geschwiegen hat. Ich hatte Angst, dass Ihr Blick mich endgültig zerstören würde.“
Johanna legte eine Hand auf das Heft, das neben ihr auf der Bank lag. „Arved, ich habe deine Texte aufbewahrt. Jeden Satz. Sie waren voller Sehnsucht, voller Leben. Ein Mensch, der so schreibt, kann nicht verloren sein.“
Seine Lippen zuckten, als wollte er etwas erwidern, doch er brachte kein Wort heraus. Stattdessen wandte er den Blick ab, sah auf den Hund, der reglos im Gras lag.
„Er hat mich am Leben gehalten. Wenn ich alles verloren hatte, war er da. Still, treu, so wie Sie es immer waren. Vielleicht ist er deshalb zu Ihnen gegangen. Damit ich endlich den Mut finde, zurückzukehren.“
Johanna spürte einen Kloß im Hals. „Und jetzt? Was willst du tun?“
Arved schwieg, schloss die Augen und atmete tief durch. „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr davonlaufen kann. Zu viel in mir schreit nach einem Ende, nach einer Antwort. Vielleicht bin ich hier, weil ich Abschied nehmen muss. Vielleicht auch, weil ich lernen muss, Tschüss zu sagen.“
Die Worte trafen sie wie ein leiser Schlag. Sie erinnerte sich an den Tag, als er verschwunden war, ohne ein Wort, ohne Blick zurück. All die Jahre hatte sie gewartet, ohne es zu wissen, auf diesen einen Moment.
„Arved“, sagte sie, und ihre Stimme war weich, fast wie damals im Klassenzimmer. „Manchmal ist es genug, einfach wiederzukehren. Worte sind wichtig, aber manchmal genügt das Dasein.“
Er öffnete die Augen, sah sie an, und in diesem Blick lag Dank, aber auch Schmerz. „Sie verstehen mehr, als ich je sagen könnte.“
Die Sonne senkte sich langsam über die Felder, und das Licht legte sich warm über den Garten. Arved erhob sich schließlich, als sei die Last seiner Beichte zu schwer geworden, um länger zu sitzen.
„Ich komme wieder“, sagte er leise. „Aber ich weiß nicht, ob ich dann alles erzählen kann.“
„Erzähl nur das, was du tragen kannst“, antwortete Johanna.
Der Hund stand auf, schüttelte das Fell und folgte Arved bis zur Hecke, blieb dann stehen und kehrte zu Johanna zurück.
Sie sah, wie er verschwand, bis die Schatten der Bäume ihn verschluckten. Dann legte sie die Hand auf das Heft und flüsterte: „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“
Als sie später ins Haus ging, bemerkte sie etwas am Küchentisch. Neben der Blechschachtel lag ein kleiner Stein, glatt und rund, mit eingeritzten Buchstaben: A. B. Es war, als habe jemand ihn heimlich dort hingelegt.
Johanna nahm den Stein in die Hand, drehte ihn, spürte die rauen Kanten.
Und sie wusste, dass Arveds Vergangenheit noch nicht alles war, was er mit sich trug.
Die Nacht senkte sich über den Garten, und der Hund schlief zu ihren Füßen. Doch in der Ferne hörte sie Schritte, die im Dunkel verhallten.
Und sie ahnte, dass das Schlimmste noch nicht gesagt war.