Der Hund im Apfelgarten | Ein geheimnisvoller Hund im Apfelgarten führt eine alte Lehrerin zu einem lange verlorenen Schüler

🐾 Teil 7: Die Nacht der Entscheidung

Der Himmel hing schwer über Bischofswerda, als ein Regen aufzog, der nicht loslassen wollte. Johanna saß am Fenster und sah, wie Tropfen über die Scheiben liefen, als wollte die Welt selbst die Spuren der Vergangenheit verwischen. Der Hund lag zusammengerollt am Ofen, sein Fell dampfte noch von der Nässe.

Am Abend klopfte es an der Tür. Nicht laut, eher vorsichtig, fast so, als fürchtete der Besucher, abgewiesen zu werden. Johanna öffnete, und da stand Arved, durchnässt bis auf die Haut, die Haare klebten ihm im Gesicht. Seine Augen waren dunkel, tiefer als sonst, und ein Ausdruck lag darin, den sie noch nie gesehen hatte.

„Kommen Sie rein“, sagte Johanna und wich zurück.

Er trat ein, setzte sich schwer auf den Stuhl am Tisch, als trügen seine Beine ihn kaum noch. Der Hund schüttelte sich, kam näher und legte den Kopf auf Arveds Knie.

Eine Weile hörten sie nur das Trommeln des Regens gegen das Dach. Dann hob Arved den Blick.

„Es ist Zeit“, sagte er leise. „Ich muss es endlich erzählen.“

Johanna nickte. Ihre Hände zitterten, als sie eine Kanne Tee holte und zwei Tassen einschenkte. Sie setzte sich ihm gegenüber, wartete, ohne zu drängen.

Arved hielt die Tasse zwischen den Händen, als wolle er sich an ihr wärmen. Seine Stimme brach anfangs, doch dann fand er den Faden.

„Es war in der Nacht, bevor ich verschwand. Mein Vater war betrunken, wütender als sonst. Ich hatte meine Schulsachen auf dem Tisch liegen, ein Aufsatzheft, das ich eigentlich am nächsten Tag abgeben wollte. Er riss es an sich, las ein paar Zeilen und lachte. Ein böses Lachen, das mir heute noch in den Ohren klingt. Er sagte, ich sei ein Träumer, einer, der nichts vom Leben verstehe. Dann hat er das Heft ins Feuer geworfen.“

Johanna schluckte. Sie erinnerte sich an den Aufsatz, an ihre rote Anmerkung am Rand: „Gut beobachtet, aber zu traurig.“ Vielleicht war es genau der Text gewesen.

„Ich habe geschrien, wollte es aus den Flammen ziehen. Er hat mich gepackt, zu Boden gestoßen. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat, nur die Wut, die in seinen Augen stand. Ich habe zurückgestoßen, zum ersten Mal. Und er stürzte gegen die Kante des Tisches.“

Arved verstummte, und der Regen schien lauter zu werden. Johanna hielt den Atem an.

„Er blieb liegen, bewegungslos. Ich dachte… ich dachte, er sei tot. Ich bin gerannt, ohne zurückzusehen. Ich habe mich in den Wäldern versteckt, die ganze Nacht. Am Morgen hörte ich, dass er noch lebte, aber schwer verletzt. Und trotzdem… ich konnte nicht zurück. Für mich war es vorbei.“

Er vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich habe nie erfahren, ob er mir verziehen hat. Er starb zwei Jahre später. Und ich habe mich nicht einmal zur Beerdigung getraut.“

Johanna spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Sie erinnerte sich an Otto Brennecke, wie er noch nach dem Schlaganfall durchs Dorf humpelte, das Gesicht versteinert, niemandem nah. Sie verstand, warum Arved geglaubt hatte, schuldig zu sein.

„Du warst ein Kind“, sagte sie leise. „Du hattest keine Schuld.“

Arved hob den Kopf, die Augen voller Schmerz. „Ich habe ihn gestoßen. Ich habe weggesehen. Ich habe geschwiegen. Und ich habe mich selbst verbannt.“

Johanna legte die Hand über seine. „Du hast überlebt. Das allein war schon schwer genug.“

Er schüttelte den Kopf. „Aber ich habe damit alles verloren. Meine Jugend, meine Freunde, meine Zukunft. Ich habe nur noch den Hund gehabt und die Erinnerung an Ihr Gesicht im Klassenzimmer.“

Draußen peitschte der Wind gegen die Fenster, und ein Ast schlug an die Scheibe. Der Hund hob kurz den Kopf, legte sich dann wieder nieder.

„Warum bist du jetzt zurückgekommen?“ fragte Johanna.

Arved seufzte, tief und schwer. „Weil die Jahre nichts ausgelöscht haben. Ich habe gedacht, die Zeit würde das Schweigen tragen. Aber je älter ich wurde, desto lauter wurde es. Ich habe gewusst, dass ich hierher muss, bevor es zu spät ist.“

Johanna spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Es ist nie zu spät, Arved. Manchmal dauert es nur länger, bis man den Weg zurückfindet.“

Eine lange Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Dann legte Arved das Gesicht in die Hände und weinte. Leise, fast beschämt, als hätte er das Recht dazu verloren. Johanna stand auf, legte eine Decke um seine Schultern, wie sie es bei einem Schüler getan hätte, der fror.

„Du bist nicht allein“, sagte sie. „Nicht mehr.“

Die Nacht verging in Gesprächen, stockend, bruchstückhaft. Arved erzählte von den Jahren des Umherirrens, von kurzen Arbeiten auf Baustellen, von Nächten in verlassenen Fabrikhallen, von Begegnungen mit Menschen, die kamen und gingen. Und immer wieder tauchte der Hund auf, ein stummes Wesen, das ihn gefunden hatte, wenn er sich am meisten verloren fühlte.

Als der Morgen graute, schlief Arved erschöpft auf dem Stuhl ein. Johanna deckte ihn zu, sah ihm lange ins Gesicht. Da war der Junge von damals, verborgen unter den Linien des Mannes, den das Leben gezeichnet hatte.

Sie trat hinaus in den Garten, atmete die kühle Luft. Nebel lag über den Feldern, und der erste Frost schimmerte im Gras.

Der Hund stand neben ihr, als wüsste er, dass der schwerste Teil gesagt war.

Doch Johanna ahnte, dass es noch mehr gab, etwas Tieferes, das Arved noch immer verschwieg.

Sie legte die Hand auf das Heft, das auf dem Tisch lag, und flüsterte: „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“

Und in der Ferne, hinter dem Nebel, glaubte sie eine Stimme zu hören, die leise sagte: „Noch nicht.“

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