🐾 Teil 8: Das Haus im Schatten
Die Sonne ging spät auf an diesem Morgen, als hätte sie selbst gezögert, den neuen Tag zu bringen. Nebel hing über den Feldern, und die Äste im Apfelgarten waren schwer von Tau. Johanna saß auf der Veranda, den Schal eng um die Schultern gezogen, und wartete auf Arved.
Er kam langsamer als sonst, mit gebeugten Schultern, die Hände tief in den Manteltaschen. Der Hund lief neben ihm, schien ihn fast zu stützen. Johanna erhob sich, spürte, dass er heute schwerer beladen war als an allen Tagen zuvor.
„Du hast kaum geschlafen“, stellte sie fest, als er die Stufen hinaufstieg.
„Schlaf meidet mich, seit ich wieder hier bin.“
Sie bat ihn hinein, doch er schüttelte den Kopf. „Nicht heute. Heute müssen wir hinaus.“
Johanna verstand nicht sofort. „Wohin?“
Sein Blick wanderte über den Gartenzaun, hinaus zum Weg, der hinunter ins Dorf führte. „Zum Haus. Ich kann nicht länger daran vorbeigehen. Ich muss es sehen. Sonst bleibe ich ein Gefangener.“
Johanna atmete tief ein. Die Vorstellung, das Brennecke-Haus wieder zu betreten, ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie erinnerte sich an die düsteren Fenster, an den Vater, der selten ein freundliches Wort hatte. Das Haus stand seit Jahren leer, die Fensterläden hingen schief, das Dach war an manchen Stellen eingefallen. Niemand hatte es kaufen wollen, niemand wagte, darin zu leben. Es war wie ein stummes Mahnmal am Rande des Ortes.
„Willst du, dass ich dich begleite?“ fragte sie.
„Ja“, sagte Arved leise. „Allein schaffe ich es nicht.“
Sie gingen am späten Vormittag los. Der Weg war vertraut, doch für Johanna fühlte er sich fremd an, als ginge sie in eine Zeit zurück, die längst vergangen sein sollte. Der Hund lief voraus, schnupperte am Boden, blieb immer wieder stehen, als prüfe er den Weg für sie.
Das Haus lag am Ende einer schmalen Straße. Die Fassade war grau und bröckelte, das Tor hing schief in den Angeln. Johanna blieb stehen, ihr Herz pochte laut. Arved aber trat weiter, sein Gesicht bleich, die Augen fest auf das Gebäude gerichtet.
„Es riecht noch immer nach ihm“, sagte er, kaum hörbar.
Johanna legte ihm die Hand auf den Arm. „Wir sind hier. Zusammen.“
Er drückte das Tor auf. Es quietschte, als wolle es protestieren, doch es gab nach. Der Garten war verwildert, das Gras stand hoch, Brennnesseln bedeckten die Wege. Der Hund sprang über die Sträucher, als kenne er den Ort.
Im Haus war es kühl und dumpf. Staub hing in der Luft, Spinnweben spannten sich über die Ecken. Die Möbel standen noch da, alt und verlassen, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Ein Stuhl kippte, als Arved ihn berührte.
Sie gingen durch die Zimmer, eines nach dem anderen. Im Wohnzimmer stand noch der schwere Tisch, an dessen Kante er seinen Vater gestoßen hatte. Arved blieb davor stehen, die Hand auf der glatten Holzfläche.
„Hier“, flüsterte er. „Es war hier.“
Johanna trat neben ihn, spürte die Kälte, die von den Wänden ausging. „Das ist lange her.“
„Aber es lebt noch in mir.“
Er sank auf den Stuhl, legte den Kopf in die Hände. „Manchmal sehe ich ihn noch. Wie er auf dem Boden liegt, wie sein Blick mich trifft. Ich habe ihn nie vergessen. Und er mich auch nicht.“
Johanna setzte sich neben ihn, legte die Hand auf seine Schulter. „Arved, er war ein harter Mann. Aber du warst ein Junge. Ein Schlag hätte ihn nicht töten dürfen, und er hat weitergelebt. Deine Schuld ist nicht, dass er gefallen ist. Deine Schuld ist, dass du dir nie verziehen hast.“
Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Du bist hier. Das ist der erste Schritt. Manchmal reicht es, zurückzukehren und das Schweigen zu brechen.“
Der Hund legte sich an ihre Füße, seufzte tief, als wolle er die Schwere mittragen.
Sie blieben lange sitzen, bis das Licht sich änderte und die Schatten länger wurden. Schließlich stand Arved auf, ging in die Küche. Auf dem Regal lag eine kleine Schachtel, verstaubt und verbeult. Er öffnete sie vorsichtig. Darin lag ein Taschenmesser, alt, der Griff abgenutzt.
„Es war das Einzige, das er mir je geschenkt hat“, sagte er. „Zu meinem zwölften Geburtstag. Er sagte, ein Mann brauche ein Messer, nicht Bücher.“
Arved schloss die Schachtel und drückte sie Johanna in die Hand. „Behalten Sie es. Ich kann es nicht mehr tragen.“
Johanna zögerte, doch dann nahm sie es an sich. „Vielleicht musst du es nicht weggeben, sondern lernen, es anders zu sehen.“
Sie verließen das Haus, als die Dämmerung hereinbrach. Der Hund lief still neben ihnen, und der Weg zurück wirkte leichter als der Hinweg.
Am Garten angekommen, setzte sich Arved auf die Bank unter den Apfelbaum. Sein Gesicht war erschöpft, aber in seinen Augen lag ein Funkeln, das zuvor nicht da gewesen war.
„Ich habe den Ort gesehen. Er hat keine Macht mehr über mich. Aber die Erinnerungen… sie bleiben.“
Johanna setzte sich neben ihn. „Erinnerungen kann man nicht löschen. Aber man kann lernen, mit ihnen zu leben.“
Eine Weile schwiegen sie, nur das Rascheln der Blätter begleitete sie. Dann sagte Arved: „Es gibt noch etwas, das Sie wissen müssen. Etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe.“
Johanna spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Dann erzähl es mir.“
Arved sah sie an, und sein Blick war klarer als je zuvor. „Aber nicht heute. Ich brauche noch eine Nacht. Morgen werde ich alles sagen.“
Johanna nickte langsam. „Morgen also.“
Der Hund legte den Kopf auf Arveds Knie, und die Dunkelheit hüllte den Garten ein.
In der Stille hörte Johanna ein fernes Läuten der Glocken, als riefen sie beide zu etwas, das größer war als ihre Angst.
Und sie wusste, dass das, was Arved am nächsten Tag offenbaren wollte, alles verändern würde.