Der Hund im Apfelgarten | Ein geheimnisvoller Hund im Apfelgarten führt eine alte Lehrerin zu einem lange verlorenen Schüler

🐾 Teil 10: Der letzte Apfel

Der Morgen brach kühl und klar an. Die Bäume standen kahl, nur wenige Äpfel hingen noch in den Zweigen, als wollten sie trotzig den Winter hinauszögern. Johanna erwachte früh, doch sie blieb lange im Bett liegen, als fürchte sie den Tag, der kommen musste. Heute würde Arved dem Mann begegnen, der ihn einst gebrochen hatte.

Sie zog sich langsam an, kochte Kaffee, stellte zwei Tassen auf den Tisch, auch wenn sie wusste, dass Arved sie vielleicht nie wieder gemeinsam mit ihr trinken würde. Der Hund lag auf der Veranda, die Schnauze auf den Pfoten, die Augen wach. Er wusste, dass etwas Entscheidendes bevorstand.

Gegen Mittag erschien Arved. Sein Gesicht war bleich, die Züge angespannt, als sei er die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen. Er setzte sich unter den Apfelbaum, doch er blieb nicht lange sitzen.

„Es ist Zeit“, sagte er leise.

Johanna legte ihm die Hand auf den Arm. „Du musst da nicht allein hingehen.“

„Nein“, erwiderte er. „Ich will es allein tun. Aber ich brauche, dass Sie hier warten. Dass ich zurückkommen kann, wenn es vorbei ist.“

Sie nickte, obwohl ihr Herz sich zusammenzog. „Ich werde hier sein.“

Der Hund sprang auf, als wolle er ihn begleiten. Arved sah hinab, legte die Hand auf den Kopf des Tieres. „Gut, dann komm mit. Vielleicht brauche ich dich mehr, als ich denke.“

Sie gingen den Weg hinunter ins Dorf. Johanna blieb zurück, stand lange am Zaun und sah ihnen nach, bis die beiden Gestalten im Licht verschwanden.

Die Stunden vergingen langsam. Johanna ging im Garten auf und ab, pflückte die letzten Äpfel vom Baum, obwohl ihre Hände zitterten. Immer wieder schaute sie zum Weg, ob er zurückkehrte. Ihr Herz klopfte unruhig, als wollte es ihr sagen, dass dieser Tag mehr Gewicht hatte als alle Jahre davor.

Arved stand zur gleichen Zeit vor einem kleinen Haus am Rand des Dorfes. Die Fenster waren trüb, die Vorhänge vergilbt. Er atmete tief durch, klopfte, hörte ein Räuspern und dann langsame Schritte.

Die Tür öffnete sich, und ein alter Mann stand im Rahmen. Gebeugte Schultern, eingefallene Wangen, graue Augen, die jedoch sofort erkannten. Einen Augenblick lang war Stille, dann hob der Mann den Kopf.

„Also doch“, murmelte er. „Ich habe dich erwartet.“

Arved spürte, wie ihm die Kehle trocken wurde. „Ich bin nicht gekommen, um dich zu beschimpfen. Ich bin gekommen, weil ich nicht länger schweigen kann.“

Der Mann trat zurück, ließ ihn eintreten. Die Stube roch nach kaltem Rauch und feuchtem Holz. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Brot, daneben eine leere Flasche.

„Du hast geschwiegen lange genug“, sagte der Alte, während er sich auf den Stuhl sinken ließ. „Aber ich auch.“

Arved blieb stehen, die Hände zu Fäusten geballt. „Warum? Warum hast du mir das angetan? Ich war ein Kind.“

Der Mann sah ihn an, und in seinen Augen lag keine Reue, nur Müdigkeit. „Weil ich konnte. Weil du schwach warst. Und weil ich selbst nichts anderes kannte. Meine Welt war Gewalt. Ich habe gegeben, was ich selbst empfangen hatte.“

Arved bebte vor Zorn. Doch er wusste, dass er nicht deshalb gekommen war. Er war nicht gekommen, um zu schlagen, sondern um zu sprechen.

„Du hast mir das Leben genommen. Nicht meinen Körper allein, sondern alles, was ich hätte sein können. Ich habe mich versteckt, geschwiegen, mich selbst verloren. Jahre sind vergangen, weil du mir das Schweigen aufgezwungen hast.“

Der Mann schwieg. Nur der Hund knurrte leise, als hätte er den Schmerz gespürt.

„Ich will keine Rache“, sagte Arved schließlich. „Ich will nur, dass du die Wahrheit hörst. Dass du weißt, dass ich überlebt habe. Und dass du nicht gewonnen hast.“

Der Alte senkte den Blick. Zum ersten Mal zitterten seine Hände. „Ich bin alt, Arved. Meine Tage sind gezählt. Vielleicht habe ich gehofft, dass du kommst. Damit ich nicht als Sieger sterbe.“

Arved trat einen Schritt zurück. „Du warst nie ein Sieger. Du warst nur ein Feigling, der ein Kind brauchte, um sich groß zu fühlen.“

Dann wandte er sich um, öffnete die Tür und trat hinaus. Der Hund folgte ihm, drängte sich an sein Bein, als wüsste er, dass es geschafft war.

Der Weg zurück war leichter, doch Arved spürte, wie seine Beine zitterten. Er hatte nicht geschrien, nicht geschlagen. Er hatte gesagt, was er nie zu sagen gewagt hatte. Und das war mehr, als er je erwartet hatte.

Johanna wartete am Gartenzaun. Als sie ihn kommen sah, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie trat ihm entgegen, nahm seine Hand, ohne ein Wort.

„Es ist vorbei“, sagte er heiser.

„Nein“, erwiderte sie, „es beginnt erst.“

Sie gingen in den Garten, setzten sich unter den Apfelbaum. Die Sonne sank langsam, warf ein goldenes Licht über das Gras. Der Hund legte sich zwischen sie, schloss die Augen.

Arved nahm das alte Heft aus der Tasche, das Johanna ihm zuletzt zurückgegeben hatte. Er schlug die letzte leere Seite auf, zog einen Stift hervor.

„Ich will es vollenden“, sagte er. „Den Brief, den ich damals nicht beendet habe.“

Er schrieb langsam, Wort für Wort, während Johanna schweigend neben ihm saß. Schließlich las er vor:

„Liebe Frau Meissner, Sie haben gesagt, Hoffnung sei wichtig. Heute weiß ich, dass Sie recht hatten. Ich habe lange gebraucht, um sie zu finden. Aber sie war hier, im Garten, in Ihren Augen, in der Treue eines Hundes. Dies ist mein Tschüss, und zugleich mein Anfang.“

Er legte den Stift weg, schloss das Heft. Seine Augen glänzten im letzten Licht.

Johanna nahm seine Hand. „Jetzt bist du angekommen.“

Der Abend legte sich still über den Garten. Kein Nebel, kein Schatten mehr. Nur der Klang der Glocken in der Ferne, ruhig, versöhnlich.

Arved blieb lange sitzen, bis die Sterne am Himmel standen. Dann erhob er sich, blickte zum Hund, der aufwachte und ihn ansah.

„Komm“, sagte er. „Wir gehen nach Hause.“

Johanna sah ihnen nach, wie sie den Weg hinuntergingen. Sie wusste, dass er nicht fortgehen würde wie damals, sondern dass er nun endlich angekommen war.

Unter dem Apfelbaum lag ein letzter Apfel im Gras, rund und rot, vom Tau glänzend. Johanna hob ihn auf, hielt ihn einen Moment in den Händen und lächelte.

Denn sie wusste, dass manche Geschichten nicht mit einem Abschied enden, sondern mit einem neuen Anfang.

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