Der Hund im Briefkasten | Ein Zettel, ein Hund, ein alter Briefkasten und eine Reise in die eigene Vergangenheit

🐾 Teil 4: Die Straße, die nicht vergessen hatte

Die Adresse war mit Bleistift geschrieben. Unsicher, als hätte die Hand gezittert:
„Buchhorst 12, Nähe Kalbe/Milde.“
Kein Name. Kein weiterer Hinweis. Nur diese Zeile, in der etwas zögerte, aber gleichzeitig drängte. Wie ein halboffener Türspalt zur Vergangenheit.

Roselinde stand lange am Küchentisch, den Zettel in der Hand. Der Tee neben ihr war längst kalt geworden.

Kalbe war nur eine Stunde entfernt. Doch Buchhorst – ein Weiler, kaum mehr als ein paar alte Höfe im Wind, hatte sie seit vierzig Jahren nicht betreten. Damals war sie zwanzig gewesen, voller Fragen und Wut, mit einer Mutter, die das Herz hinter Vorhängen versteckte und einem Vater, der lieber die Stille trank als das Gespräch suchte.

Georg saß mit Tom im Wohnzimmer, die beiden spielten Mensch-ärgere-dich-nicht, Muck lag ausgestreckt neben dem Ofen. Es war ein merkwürdiger Frieden eingekehrt, der keiner Worte bedurfte. Und doch wusste Roselinde: Es war nur ein Zwischenraum. Ein Atemholen vor dem nächsten Schritt.

Sie nahm ihre Jacke, ließ eine Notiz auf dem Küchentisch „Bin bald zurück. Bitte nichts wegwerfen.“ und fuhr los.

Die Straße nach Buchhorst war gesäumt von kahlen Bäumen. Der Wind drückte von der Seite, als wolle er sie umstimmen. Aber Roselinde hielt das Lenkrad fest. Die Kurven waren ihr vertraut. Jedes Feld, jeder Wegweiser ein Echo aus einer Zeit, die sich lange nicht gemeldet hatte.

Der Ort bestand aus acht Häusern. Vielleicht neun, wenn man die verfallene Scheune am Hang mitzählte. Sie bog in den Schotterweg zur Hausnummer 12 ein.

Das Haus war grau. Nicht von der Farbe, sondern von der Zeit. Das Dach moosbedeckt, die Fenster blind vor Staub. Ein Zaun, dessen Latten fehlten. Und auf der Stufe vor der Tür: eine Blechdose mit trockenem Brot. Daneben: ein altes Emaillekännchen, halbvoll mit Regenwasser.

Roselinde klopfte.

Zuerst nichts.

Dann ein Geräusch, irgendwo im Haus. Ein Klirren. Schritte. Und schließlich ein Gesicht hinter der Scheibe – eingefallen, verschattet, aber nicht fremd.

Die Tür öffnete sich langsam.

Eine Frau, vielleicht Anfang achtzig. Die Haare zu einem Knoten gebunden, die Augen trüb, aber klar genug, um zu erkennen.

„Roselinde?“

Die Stimme war kratzig. Fast brüchig. Und doch eindeutig.

„Ja“, sagte Roselinde. Ihre Stimme war leise. Fast ein Hauch.

Die Frau nickte.

„Du siehst aus wie deine Mutter.“

Sie saßen in der Küche, zwischen verblasster Tapete und einem alten Radiogerät, das nur noch rauschte.

„Ich hab dich nicht erwartet“, sagte die Frau. „Aber gehofft, dass du kommst.“

„Wer sind Sie?“ fragte Roselinde schließlich.

Die Frau lächelte schief.

„Ich bin Annegret. Deine Tante. Jüngere Schwester deines Vaters. Wir haben uns nur einmal gesehen. Da warst du fünf.“

Roselinde suchte im Gedächtnis, fand nur undeutliche Bilder. Eine Hand, die nach ihr griff. Eine Schüssel mit Himbeeren. Ein Streit in der Ferne.

„Warum jetzt?“ fragte sie.

Annegret zögerte. Dann reichte sie ihr ein altes Fotoalbum. Dünn, vergilbt, mit Eselsohren. Auf der ersten Seite: ein Bild ihrer Eltern, jung, in Sonntagskleidung. Daneben ein anderes – ihr Vater, Arm in Arm mit einer Frau, die nicht ihre Mutter war.

„Das ist deine Großmutter“, sagte Annegret. „Sie hieß Maria. Sie war hier in Buchhorst geboren. Hat den Hof mit aufgebaut. Und sie hat etwas hinterlassen, das du wissen solltest.“

Annegret stand langsam auf, ging zum Wandschrank. Nach kurzem Kramen holte sie ein kleines Holzkästchen hervor, verschlossen mit einem Lederriemen.

„Das hat sie dir vermacht. Aber dein Vater wollte nie, dass du davon erfährst. Zu viel Schmerz, zu viele Erinnerungen, hat er gesagt.“

Roselinde nahm das Kästchen vorsichtig entgegen. Es war schwer. Drinnen klapperte es leise. Als sie es öffnete, fand sie:

– ein Brief, mit dem Vermerk „Für Roselinde – wenn sie bereit ist“
– ein altes Halstuch, blau mit weißen Punkten
– ein Schlüssel
– und eine kleine Plakette aus Messing, auf der stand: „Poststelle Buchhorst, 1954“

Roselinde hielt den Atem an.

Der Brief war in alter Handschrift verfasst, blass, aber lesbar. Ihre Großmutter schrieb von Briefen, die sie im Krieg für andere versteckt hatte. Von einem Versteck unter dem alten Taubenschlag hinter dem Stall. Von Hoffnung, die man nicht aufgibt, auch wenn niemand mehr antwortet.

„Ich habe Briefe bewahrt, die nie ankamen. Vielleicht willst du sie irgendwann lesen. Vielleicht bringen sie dir Trost. Oder eine Antwort.“

Sie saß noch lange in der Küche. Annegret sprach kaum noch. Schaute aus dem Fenster, als würde sie warten, dass die Vergangenheit ihnen zunickte.

„Warum haben Sie mir das alles nicht früher gesagt?“ fragte Roselinde schließlich.

Annegret zuckte mit den Schultern.

„Weil manche Dinge erst dann auftauchen, wenn man alt genug ist, sie zu tragen.“

Roselinde sah sie lange an. Dann lächelte sie zum ersten Mal an diesem Tag.

Auf dem Rückweg nahm sie den Schlüssel immer wieder in die Hand. Messing, glattpoliert, warm.

In der Tasche lag der Brief. Im Herzen: eine neue Frage.

Was wartete unter dem Taubenschlag?

Und was hatte ihre Großmutter bewahrt für sie, und vielleicht für viele andere?

Zuhause angekommen, fand sie Muck mit einer zerfetzten alten Postkarte im Maul und auf der Rückseite stand etwas, das in keiner Handschrift geschrieben war, die sie kannte.

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