🐾 Teil 5: Die Karte ohne Absender
Muck lag unter dem Küchentisch. Er sah schuldbewusst aus, als Roselinde die Tür öffnete. Seine Ohren zuckten, der Schwanz lag flach am Boden.
Neben ihm: Fetzen einer alten Postkarte, zerrissen, aber nicht unlesbar. Sie hob die Reste auf, schob die Teile aneinander wie ein Puzzle.
Vorderseite: Ein Bild vom Arendsee, verblasst, mit Menschen in Badeanzügen der Sechzigerjahre.
Rückseite: Nur ein Satz, mit rotem Kugelschreiber geschrieben, in enger, eckiger Schrift:
„Nicht alle Briefe wurden abgeholt.“
Kein Name. Kein Datum. Kein Absender.
Roselinde setzte sich langsam. Ihr Blick wanderte zur Tasche mit dem Kästchen. Sie holte den Schlüssel hervor. Er fühlte sich nun schwerer an, als hätte die Karte etwas freigesetzt, was tief unten gelegen hatte.
Sie spürte, dass die Zeit reif war. Es gab keinen Grund mehr zu warten.
Am nächsten Morgen fuhr sie erneut nach Buchhorst.
Die Nebelschwaden lagen tief zwischen den Feldern. Als sie am alten Stall ankam, war es still. Selbst die Vögel schienen zu lauschen.
Hinter dem Haus stand ein verwitterter Taubenschlag. Das Dach war eingestürzt, das Holz morsch. Trotzdem schien der Boden darunter unberührt. Als hätte ihn niemand je betreten.
Roselinde ging in die Hocke. Der Schlüssel in ihrer Jackentasche vibrierte förmlich.
Unter dem unteren Brett fand sie eine lose Bodenplatte. Sie schob sie zur Seite und entdeckte darunter eine kleine Metallkiste, eingewickelt in Leinen, von Mäusen angenagt, aber geschlossen.
Der Schlüssel passte.
Drinnen: ein Bündel Briefe, sorgfältig gebunden mit einem Stoffband. Die Umschläge vergilbt, aber beschriftet. Handschriften aus vielen Jahrzehnten. Manche ordentlich, manche zitternd, manche kaum noch zu entziffern.
Roselinde schluckte.
Einer der Briefe war offen.
Sie zog ihn heraus, vorsichtig, als könne er zerfallen.
„An meine Tochter, irgendwo da draußen – Juni 1944“
Die Schrift war gleichmäßig. Verzweifelt, aber klar. Der Inhalt: eine Mutter, die ihr Kind nicht mehr erreichen konnte. Sie schrieb von Angst, vom Lärm der Flieger, von Kartoffelsuppe und Gebeten. Vom Warten. Und von der Hoffnung, dass jemand, irgendwann, diese Zeilen findet.
Roselinde las Stunde um Stunde. Sie vergaß die Zeit, die Kälte, den Geruch nach Erde. Jeder Brief war ein kleiner Schrei aus der Vergangenheit. Manche voller Liebe. Andere voller Schuld. Einige einfach nur still.
Sie verstand nun, was ihre Großmutter bewahrt hatte.
Nicht Papier. Nicht Worte.
Sondern Menschen.
Als sie mit der Kiste ins Haus zurückkehrte, saß Georg in der Küche, einen Kaffeefleck auf dem Hemd.
„Du siehst aus, als hättest du einen Schatz gefunden“, sagte er.
„Hab ich auch“, antwortete sie.
Tom kam herein, Muck im Schlepptau. Er sah die Briefe, streichelte vorsichtig über einen Umschlag.
„Sind die alt?“
„Sehr alt.“
„Von toten Leuten?“
Roselinde nickte.
„Ja. Aber manchmal sprechen Tote lauter als Lebende.“
Am Abend überlegte sie lange. Dann griff sie zum Telefon und rief im Rathaus von Gardelegen an. Sie kannte dort noch jemanden vom Archiv, eine Frau namens Hennicke.
„Ich habe etwas gefunden“, sagte Roselinde. „Etwas, das man nicht einfach verstauben lassen darf.“
Frau Hennicke klang erst skeptisch, dann neugierig.
„Kommen Sie vorbei. Und bringen Sie Tee mit. Das klingt nach mehr als nur alten Briefen.“
Zwei Tage später saß sie mit Frau Hennicke im kleinen Lesesaal des Archivs. Die Briefe lagen ausgebreitet auf dem Tisch, geschützt durch Plastikfolien.
„Das ist ein Zeitfenster“, murmelte die Archivarin. „Ein Spalt in die wirkliche Geschichte. Nicht das, was in Büchern steht, sondern das, was Menschen wirklich fühlten.“
Roselinde fühlte zum ersten Mal seit Jahren so etwas wie Stolz. Nicht auf sich. Sondern darauf, dass sie etwas bewahren konnte, das größer war als sie selbst.
„Wir sollten sie ausstellen“, sagte Frau Hennicke. „Mit Namen, wenn wir sie finden. Und mit einem Raum für Antworten.“
„Antworten?“
„Ja. Vielleicht lebt irgendwo jemand, der nie wusste, dass ein Brief auf ihn wartete.“
Die Idee ließ sie nicht mehr los.
Sie schrieb einen Leserbrief an die Lokalzeitung. Gab Interviews im Regionalradio. Erzählte von ihrer Großmutter, dem Versteck, den Zeilen im Verborgenen.
Und dann kam der erste Anruf.
Ein Mann aus Halle. Sechzig, leise Stimme.
„Ich glaube, einer der Briefe stammt von meiner Großtante.“
Dann eine E-Mail von einer Frau aus Leipzig.
„Ich habe ihren Namen gegoogelt. Mein Vater hat sie oft erwähnt. Sie schrieb ihm im Krieg, aber der Brief kam nie an.“
Und so begann es.
In der Küche stapelten sich Umschläge. Menschen schrieben, riefen an, suchten. Manche schickten Fotos. Andere Erinnerungen. Einige weinten einfach nur am Telefon.
Roselinde öffnete jeden Brief persönlich. Sie antwortete mit der Hand. Keine E-Mail. Keine vorgedruckte Karte.
Nur Worte.
Echte, ehrliche, manchmal unbeholfene Worte.
Tom half ihr manchmal. Muck lag dabei immer neben dem Schreibtisch, als wollte er sicherstellen, dass keiner der Briefe verlorenging.
Eines Nachmittags kam ein Brief ohne Absender. Wieder eine alte Karte.
Diesmal ein anderes Motiv: Eine Frau mit Hut, am Fenster, daneben ein Hund. Auf der Rückseite: nur vier Wörter.
„Sie lesen das Richtige.“
Roselinde starrte lange auf die Zeile.
Irgendwo da draußen wusste jemand, was sie tat.
Und beobachtete sie.
Vielleicht war es Hilde. Vielleicht jemand anderes.
Aber sie hatte keine Angst.
Denn zum ersten Mal seit Jahren hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben wieder eine Richtung hatte.
Am Abend saß sie mit Georg und Tom im Wohnzimmer. Die Heizung gluckerte, draußen regnete es.
„Was meinst du“, fragte Tom leise, „was in all den Briefen steht, die nie geschrieben wurden?“
Roselinde sah ihn an.
„Vielleicht genau das, was wir jetzt sagen.“
Und dann, mitten in der Nacht, schlug der Wind gegen das Fenster.
Und als Roselinde am Morgen zum Briefkasten ging, fand sie kein Papier.
Sondern eine kleine, graue Stoffmaus.
Und einen winzigen Schlüssel daran.
—
Der Schlüssel war so klein, dass er nur zu etwas passte, das niemand mehr für wichtig gehalten hatte, eine Spieluhr im Schlafzimmer ihrer Mutter.