Der Hund im Briefkasten | Ein Zettel, ein Hund, ein alter Briefkasten und eine Reise in die eigene Vergangenheit

🐾 Teil 6: Die Melodie im Dunkeln

Der Schlüssel war kaum länger als ihr kleiner Fingernagel, aus Messing, an einer abgewetzten grauen Stoffmaus befestigt. Roselinde hielt ihn vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, als wäre er aus Glas.

Die Maus – ein Kinderspielzeug. Alt, die Naht an einer Seite aufgeplatzt, das linke Auge fehlte. Trotzdem war etwas Zärtliches an dem kleinen Ding. Es erinnerte sie an das Puppenhaus aus ihrer Kindheit, an verwaschene Schlaflieder und eine Mutter, die damals noch gelächelt hatte.

Roselinde ging hinauf ins Schlafzimmer. Es war das alte Zimmer ihrer Eltern. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie es kaum noch betreten. Alles stand dort noch, wie eingefroren: die Kommode mit den Glasgriffen, das Stickbild über dem Bett, das nie fertige Kreuzworträtsel neben der Lampe.

Auf dem Fensterbrett, fast verdeckt von einem Spitzendeckchen, stand eine kleine Spieluhr. Weiß lackiert, mit einer verblassten Rose auf dem Deckel. Roselinde hatte sie immer für kaputt gehalten. Der Schlüssel war vor Jahren verschwunden.

Sie nahm die Maus und löste den kleinen Schlüssel aus der Schlaufe. Er passte exakt.

Langsam drehte sie ihn ein. Ein Knacken. Dann ein leises Rattern.

Die Spieluhr begann zu spielen.

Eine Melodie, so zart, dass sie kaum den Raum füllte.

„Der Mond ist aufgegangen.“

Roselinde schloss die Augen. Die Töne trafen etwas in ihr, das sie lange nicht gespürt hatte.

Als das Lied verklang, öffnete sie den Deckel.

Drinnen lag ein gefalteter Zettel. Alt, aber nicht brüchig. In sorgfältiger Handschrift:

„Für Roselinde. Wenn du je glaubst, dass niemand dich mehr sieht, dann öffne mich.“

Sie faltete das Papier auf. Es war kein Brief. Keine Nachricht. Nur eine Liste.

– deine ersten Worte
– dein verlorener Zahn (im Tuch)
– dein Bild mit dem roten Kleid
– dein Brief an die Milchstraße
– der Ring aus Draht, den du mir geschenkt hast

Roselinde stockte der Atem.

Es war eine Liste ihrer Mutter.

Kein Testament, kein Geständnis, sondern ein stilles Gedächtnis.

Sie schaute sich im Zimmer um. Ging zur Kommode. Zog die unterste Schublade auf.

Darin: ein kleines Kästchen aus Pappe. Sie hob den Deckel.

Und fand, genau wie beschrieben: ein Briefchen, ein Babyzahn in Seidenpapier, das verblasste Kinderbild, ein vergilbter Zettel mit krakeliger Schrift:

„An die Milchstraße. Bitte lass mein Kaninchen wieder gesund werden.“

Roselinde hielt sich den Zettel an die Brust.

Die Tränen kamen ohne Druck, leise, warm, befreiend.

Sie hatte so lange geglaubt, dass ihre Mutter sie nicht wirklich gesehen hatte. Nicht geliebt vielleicht. Nicht verstanden.

Aber die Wahrheit war: Sie hatte still gesammelt, was niemand sonst behalten hätte.

Und jetzt, Jahre nach ihrem Tod, sprach sie durch eine Melodie, eine Maus und ein vergilbtes Papier.

Am Abend erzählte sie Georg davon.

Er sagte nichts, hörte nur zu, bis zum Schluss.

Dann nickte er.

„Manche Menschen schreien ihre Liebe in die Welt. Andere flüstern sie leise, damit sie nicht verloren geht.“

Tom saß mit Muck am Boden. Er sah zu ihr auf.

„Was hast du an die Milchstraße geschrieben?“

„Dass mein Kaninchen wieder gesund werden soll.“

„Ist es das geworden?“

„Nein“, sagte sie, „aber ich hab’s trotzdem versucht.“

In den folgenden Tagen kamen neue Briefe. Fremde Menschen schrieben über eigene Verluste, gefundene Briefe, über Spieluhren, Fotos, über Dinge, die in Schubladen verschwunden waren und erst Jahre später wieder Bedeutung bekamen.

Einer dieser Briefe war besonders.

Er kam aus einem kleinen Ort bei Osterburg. Die Handschrift war zittrig, aber elegant.

„Liebe Frau Krause,
in Ihrem Zeitungsartikel las ich über die Poststelle in Buchhorst. Ich muss Ihnen etwas erzählen.
Mein Vater war Postbote in den Sechzigern. Er erzählte uns immer von einem Brief, den er nie zustellen konnte. Er hatte ihn jahrelang aufgehoben in der Hoffnung, eines Tages würde sich jemand melden.
Als er starb, fanden wir den Brief im Werkzeugkasten, zwischen Schraubenschlüsseln. Ich weiß nicht, warum er ihn dort versteckt hatte.
Der Umschlag ist an eine Maria S. adressiert.
Vielleicht ist es Ihre Großmutter.
Möchten Sie ihn sehen?“

Roselinde antwortete sofort.

Drei Tage später hielt sie den Umschlag in der Hand. Gelblich, Ecken eingerissen.

„An Maria S., Buchhorst bei Kalbe/Milde“

Absender: kein Name. Nur Initialen. R. K.

Sie öffnete den Umschlag mit zitternden Fingern.

Der Brief war kurz.

„Ich weiß, dass ich dir das Kind nie nehmen wollte. Aber ich hatte Angst. Angst vor dir. Angst vor dem Leben.
Verzeih mir, wenn du kannst.
Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, zu bleiben.
R. K.“

Roselinde las ihn zweimal, dreimal.

Dann legte sie ihn auf den Tisch.

Sie kannte die Initialen nicht. Und doch war da etwas, ein Verdacht, eine Ahnung.

Sie ging ins Schlafzimmer, holte das Fotoalbum ihrer Mutter. Blätterte nach hinten.

Da war es.

Ein Foto, vergilbt. Ihre Mutter als junge Frau, lachend, mit einem Mann in Uniform. Hand in Hand.

Auf der Rückseite: „Sommer 1959 – Rudi K. & Maria“

Georg kam herein, sah das Bild.

„Der da…“ sagte er langsam, „der kam mir immer bekannt vor. War mal bei uns in der Nähe Förster. Spurlos verschwunden irgendwann.“

Roselinde starrte weiter auf das Bild.

Rudi K.

Nicht ihr Vater. Und doch irgendwie Teil der Geschichte.

Und vielleicht, so vermutete sie nun, auch Teil ihrer eigenen.

Am nächsten Morgen stand ein alter Mann vor ihrer Tür, mit einem Brief in der Hand und Augen, die dieselbe Farbe hatten wie ihre.

Scroll to Top