🐾 Teil 7: Die Farbe der Erinnerung
Er stand einfach da. Ohne anzuklopfen, ohne zu klingeln. Aufrecht, obwohl der Rücken leicht gekrümmt war, und mit einer Haltung, die mehr sagte als Worte. Die Jacke alt, aber sauber. Die Schuhe blank geputzt. Und in der Hand ein Brief, dessen Kanten vom vielen Anfassen rund geworden waren.
Roselinde öffnete die Tür langsam. Ihr Herz schlug zu schnell. Muck bellte kurz, verstummte dann. Der Mann sah ihn an, als würde er etwas verstehen.
„Sie sind Frau Krause?“
Seine Stimme war brüchig. Doch klar. Wie jemand, der lange nicht gesprochen hat, aber nichts zu verlieren hat.
„Ja“, sagte Roselinde vorsichtig.
„Ich glaube… ich bin zu spät. Aber ich musste es versuchen.“
Er reichte ihr den Brief.
Sie nahm ihn zögernd. Der Umschlag war alt. Kein Absender. Nur ein Name auf der Vorderseite, in alter Handschrift:
„Für meine Tochter, wenn sie je wissen will, warum.“
Roselinde sah auf. Die Augen des Mannes. Dieses helle Grün, das in ihrer Familie selten war. Das ihre Mutter hatte. Und das sie selbst manchmal im Spiegel entdeckte.
„Sind… sind Sie Rudi K.?“
Er nickte.
Einmal. Langsam. Als wäre es eine Last, endlich erkannt zu werden.
Sie bat ihn hinein. Georg und Tom saßen im Wohnzimmer. Es war still. Niemand stellte Fragen. Man spürte, dass ein Augenblick gekommen war, der nicht gestört werden durfte.
Roselinde setzte sich gegenüber von Rudi an den Küchentisch. Sie hatte ihm Tee gemacht, aber er rührte ihn nicht an. Nur der Dampf stieg langsam auf, wie eine alte Geschichte, die ihren Weg suchte.
„Ich wusste nicht, dass Maria schwanger war“, sagte er nach einer Weile. „Als ich wegging, dachte ich… es sei besser so. Ich hatte Probleme. Alkohol. Schulden. Und dann kam die Armee.“
Er blickte aus dem Fenster. Der Himmel war grau, schwer. Doch es regnete nicht.
„Später habe ich gehört, sie hätte ein Kind bekommen. Ich habe gesucht, aber niemand wollte reden. Ich war nie mutig genug, einfach vor der Tür zu stehen.“
Roselinde hörte zu. Still. Ihre Hände umklammerten die Teetasse.
„Und jetzt?“ fragte sie leise.
„Jetzt bin ich ein alter Mann, der jeden Tag mit dem Gedanken lebt, dass er etwas versäumt hat. Etwas Unersetzbares.“
Er zeigte auf den Brief.
„Den habe ich viele Male neu geschrieben. Immer wieder. Ich habe ihn nie abgeschickt. Ich wusste nicht einmal, ob ich durfte.“
Roselinde öffnete den Umschlag. Zog das Papier hervor.
Die Handschrift war wackelig, aber lesbar. Es war ein Brief voller Reue. Kein Versuch, sich herauszureden. Nur ein Wunsch, wenigstens einmal gehört zu werden.
„Wenn du das liest, dann bin ich wahrscheinlich längst vergessen. Ich erwarte nichts. Kein Vergeben. Kein Verstehen. Ich will nur, dass du weißt: Du warst nicht ungewollt. Du warst einfach das Beste, das mir zu groß erschien.“
Roselinde faltete den Brief zusammen. Legte ihn behutsam auf den Tisch.
Sie sah Rudi an.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“
Er nickte. Wieder langsam. Verständnisvoll.
„Das musst du auch nicht. Ich wollte nur, dass du es weißt.“
Georg brachte still ein zweites Teeglas. Tom streichelte Muck. Alle blieben, ohne zu reden, als wäre Schweigen eine Form von Respekt.
Nach einer Weile stand Rudi auf.
„Ich werde gehen.“
„Wohin?“
Er lächelte matt.
„Ich habe ein kleines Zimmer in einem Seniorenheim in Seehausen. Es ist ruhig dort. Und ich hab einen alten Kirschbaum vorm Fenster. Das reicht mir.“
Roselinde stand auf. Ihre Stimme war fester, als sie dachte.
„Sie könnten auch bleiben. Für ein paar Tage.“
Rudi sah sie an, wie jemand, der es nicht glauben kann. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich habe lange allein gelebt. Ich will euch das nicht aufdrängen.“
„Sie drängen sich nicht auf. Sie schließen einen Kreis.“
Er blieb drei Tage. Nicht mehr.
Am Morgen des vierten Tages packte er seine Tasche. Klein. Fast leer. Nur ein Foto von Maria, ein Taschentuch, der Brief, den sie ihm nie geschrieben hatte.
Roselinde brachte ihn zur Tür. Er sah sie an, als wolle er sich jedes Detail merken.
„Danke“, sagte er leise. „Für diesen letzten Brief.“
Dann ging er. Ohne sich umzudrehen. Aber mit geradem Rücken.
Nach seinem Besuch begann Roselinde, die Briefe aus der Metallkiste einzuscannen. Sie wollte sie archivieren. Digital sichern. Zusammen mit den Fotos, Fundorten, handschriftlichen Notizen.
Ein Projekt, das Wochen dauerte. Doch mit jeder Zeile spürte sie: Es war richtig. Es war nötig.
Tom half ihr oft. Er wurde sicherer im Umgang mit den alten Dokumenten. Lernte, Handschriften zu lesen. Fragte nach. Hörte zu.
Und eines Tages, als sie gerade den letzten Brief in Folie legte, sagte er:
„Ich möchte mal jemand sein, der Briefe bringt. So wie du.“
Roselinde lächelte.
„Dann bring nicht nur Papier. Sondern Hoffnung.“
Eines Abends, der Frühling war früh in die Altmark gekommen, fanden sie einen neuen Zettel im Briefkasten. Dieses Mal auf einem karierten Schulheftblatt, mit Kinderhand geschrieben.
„Liebe Frau Krause,
ich habe Ihre Geschichte gelesen. Ich glaube, meine Oma hat so einen Brief nie bekommen. Darf ich mit Ihnen sprechen?
Ich wohne in Mechau. Mein Name ist Lene. Ich bin elf.“
Roselinde faltete den Zettel zusammen. Schaute hinaus in den stillen Garten. Dort, wo Muck unter dem alten Apfelbaum döste, Tom auf dem Boden saß und mit dem Hund sprach, als wären sie gleich alt.
„Ja“, murmelte sie. „Komm nur, Lene. Die Post hat noch viel zu verteilen.“
—
Doch was Roselinde in Mechau entdecken sollte, war kein Brief sondern etwas, das niemals abgeschickt worden war, weil es zu gefährlich war, es je zu schreiben.