🐾 Teil 8: Die Seite, die fehlte
Mechau war ein kleiner Ort, versteckt zwischen Rapsfeldern und Pappeln. Dreißig Minuten von Gardelegen entfernt, gerade lang genug, um Erinnerungen hochsteigen zu lassen und Fragen, die man besser nicht laut stellte.
Roselinde fuhr am frühen Vormittag los. Muck lag ruhig auf dem Rücksitz, Tom blieb bei Georg, der ihm beigebracht hatte, wie man einen Vogelkäfig repariert, obwohl keiner von beiden einen besaß.
Die Adresse, die Lene auf den Zettel geschrieben hatte, führte zu einem kleinen Einfamilienhaus mit Gartenzaun und verblühten Osterglocken. Ein Windspiel klirrte leise über der Veranda.
Roselinde parkte und stieg aus. Noch ehe sie klingeln konnte, öffnete sich die Tür.
Ein Mädchen stand da. Zierlich, mit dunklem Pferdeschwanz und einer Brille, die zu groß für ihr schmales Gesicht war. Neben ihr eine Frau in einem karierten Pullover, die nervös ihre Hände rieb.
„Sie sind Frau Krause?“ fragte die Frau.
„Ja.“
„Ich bin Johanna. Und das ist meine Enkelin Lene.“
Das Mädchen nickte höflich. Dann trat sie einen Schritt zur Seite und sagte leise: „Es geht um meine Urgroßmutter. Sie hat immer gesagt, sie hätte auf etwas gewartet, das nie kam.“
Sie saßen in der Küche. Es roch nach Apfelkompott und Bohnerwachs. Auf dem Tisch lagen ein paar vergilbte Fotos und ein Schulheft, dessen Deckel fehlte.
„Meine Oma hieß Frieda“, sagte Johanna. „Sie wurde 1924 geboren. Sie hat im Krieg ihre Eltern verloren und kam später als Küchenhilfe nach Salzwedel. Niemand weiß viel über diese Zeit. Sie sprach selten darüber. Nur in ihren letzten Jahren hat sie manchmal nachts geweint. Und immer wieder denselben Satz gesagt: ‘Er hat nie geschrieben.’“
Roselinde beugte sich über das Heft. Die Schrift war alt, eckig, mit Bleistift geschrieben. Gedichte, kleine Geschichten, zwischendurch Brieffragmente. Doch einige Seiten fehlten.
Lene zeigte auf eine eingerissene Stelle.
„Ich hab das Heft gefunden, in einer Schublade. Oma hatte es immer im Nachttisch. Und dann ist mir aufgefallen, dass da etwas rausgetrennt wurde. Drei Seiten. Mit Lineal. Ganz sauber.“
Roselinde spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
„Darf ich das mitnehmen? Ich habe eine Lupe zu Hause. Vielleicht kann ich Reste erkennen.“
Johanna nickte.
„Wenn es irgendetwas gibt, was Licht auf diese Jahre wirft, dann würde uns das viel bedeuten.“
Zuhause saß Roselinde stundenlang über dem Heft. Sie nutzte eine Taschenlampe, bewegte das Papier in verschiedenen Winkeln, suchte nach Druckstellen.
Und tatsächlich: Auf der Seite, die auf die entfernten Seiten folgte, war etwas zu sehen. Wie ein Abdruck. Kein Text, aber eine Adresse schwach, aber erkennbar.
„Lagerstelle 43 – Nähe Brünkendorf“
Der Name „J.K.“ stand daneben.
Ein Männername. Initialen.
Sie notierte alles, fuhr am nächsten Tag ins Stadtarchiv. Frau Hennicke, die Archivarin, winkte sie gleich durch.
„Ich hab schon auf Sie gewartet. Wieder eine neue Spur?“
„Vielleicht. Wissen Sie etwas über Lagerstelle 43?“
Die Archivarin blätterte in einem dicken Ordner, schob dann ein vergilbtes Blatt über den Tisch.
„Holzumschlagsplatz. Während des Krieges wurden dort Zwangsarbeiter untergebracht. Ukrainische und polnische Männer. Nach 1945 wurde das Gelände verlassen.“
Roselinde spürte einen Kloß im Hals.
„Gab es eine Namensliste?“
Frau Hennicke schüttelte den Kopf.
„Nicht vollständig. Vieles ging verloren. Aber hier…“ – sie deutete auf eine Notiz – „J.K. könnte für Jakub Kolesnik stehen. War dort gemeldet, wurde aber nie offiziell ausgewiesen.“
Am Abend saß Roselinde wieder am Tisch. Vor ihr: das Heft, ein Blatt Papier, auf dem sie alle Hinweise gesammelt hatte, und ein leerer Umschlag.
Sie dachte an Frieda. Ein junges Mädchen, das sich in jemanden verliebte, der nicht bleiben durfte. An Briefe, die vielleicht geschrieben, aber nie zugestellt wurden. An Seiten, die entfernt wurden aus Scham? Aus Angst? Oder zum Schutz?
Und sie dachte an die Worte von Frau Hennicke:
„Manche Briefe wurden nie verschickt, weil sie zu gefährlich waren. Aber das heißt nicht, dass sie nie existiert haben.“
Zwei Tage später besuchte sie Johanna und Lene erneut. Sie hatte nichts Greifbares gefunden – keine Fotos, keine eindeutige Verbindung. Und doch wollte sie erzählen. Von Jakub, vom Lager, von dem, was vielleicht gewesen war.
Johanna hörte still zu. Lene hielt Muck im Arm.
Als Roselinde endete, fragte das Mädchen:
„Glauben Sie, sie hat ihn trotzdem geliebt?“
„Ja“, sagte Roselinde ohne Zögern. „Manchmal reicht ein Blick. Oder ein Satz in einem Heft. Und das bleibt für immer.“
Auf dem Heimweg hielt sie an einem Feldweg an. Dort, wo das alte Lager gestanden hatte. Nichts erinnerte mehr daran. Nur die Weite. Und das Geräusch des Windes in den Bäumen.
Sie nahm einen der Briefe aus ihrer Fundkiste, las ihn laut. Er war nicht von Frieda. Aber er hätte es sein können.
„Ich weiß, dass du nie zurückkommst. Aber ich will, dass du weißt: Ich habe gewartet. Und ich habe nicht bereut.“
Zuhause wartete ein neuer Umschlag im Briefkasten.
Kein Absender. Nur ein einziger Satz darin:
„Nicht alles, was verschwiegen wurde, ist verschwunden.“
—
Und im Flur, unter dem Teppich, entdeckte Roselinde einen alten Haken und darunter einen Boden, den sie noch nie geöffnet hatte.