Der Hund im Briefkasten | Ein Zettel, ein Hund, ein alter Briefkasten und eine Reise in die eigene Vergangenheit

🐾 Teil 9: Die Stille unter den Dielen

Der Haken war kaum sichtbar. Alt, in das Holz eingelassen, von der Zeit grau geschliffen. Wäre der Teppich nicht verrutscht, hätte Roselinde ihn nie bemerkt. Sie kniete sich hin, fuhr mit dem Finger über die Kante. Dann zog sie vorsichtig daran.

Ein leises Knacken. Die Diele hob sich. Darunter: Dunkelheit. Und der Geruch nach altem Papier, Staub, vergessener Luft.

Sie holte eine Taschenlampe. Im Lichtkegel sah sie eine flache Holzkiste, mit Leder beschlagen. Kein Schloss, nur ein verknoteter Bindfaden. Ihre Finger zitterten, als sie ihn löste.

Drinnen: ein Stapel Briefe. Ein alter Wollhandschuh. Eine leere Blechdose mit der Aufschrift “Zuckerersatz – 1951”. Und ganz unten ein Umschlag, beschriftet mit schwarzer Tinte:

„Nicht lesen, bevor du verstehst, dass Schuld keine Richtung kennt.“

Roselinde hielt den Umschlag lange in der Hand. Die Worte schnitten tief. Sie öffnete ihn langsam.

Der Brief war von ihrer Mutter.

Die Schrift war geübt, ruhig, aber schwer.

„Roselinde,
du warst immer das Licht, das ich nicht verdient habe.
Ich habe Dinge verborgen, aus Angst, aus Scham, aus Pflichtgefühl. Aber das heißt nicht, dass ich sie vergessen habe.
Dein Vater war nicht dein leiblicher Vater. Das weißt du längst. Doch was du nicht weißt: Er war es, der den Mut hatte, zu bleiben.
Und Rudi?
Er war jung. Und er hat mich geliebt. Auf seine Art.
Ich habe ihm nie von dir erzählt. Nicht, weil ich es ihm nicht zutraute – sondern weil ich es mir nicht zutraute.
Ich habe dir nie gesagt, dass ich stolz auf dich bin. Jetzt tue ich es: Ich bin stolz. Und ich hoffe, du wirst mich irgendwann nicht mehr nur als die Schweigende sehen.
Sondern als eine Frau, die sich zwischen zu vielen Ängsten entscheiden musste.
Mit Liebe –
Deine Mutter“

Roselinde schluckte. Der Brief lag schwer in ihren Händen, schwerer als jede Antwort, die sie je gesucht hatte.

Sie setzte sich auf die Stufe zum Flur. Muck legte den Kopf in ihren Schoß, als hätte er gespürt, dass etwas zu Bruch gegangen war oder gerade heilte.

Am Abend saß sie lange am Küchentisch. Georg gegenüber, mit einem Glas Apfelsaft, den er langsam drehte.

„Also war dein Vater nicht dein Vater“, sagte er leise.

„Nein“, flüsterte sie. „Und doch irgendwie schon.“

Er sah sie an, dann nickte er.

„Manche Wahrheiten machen nicht alles klarer. Aber sie holen Luft in Räume, die lange verschlossen waren.“

Roselinde lächelte matt.

„Ich wünschte, ich hätte früher gefragt.“

„Du hast. Nur nicht laut.“

Am nächsten Tag nahm sie den Brief, ging damit zu Rudi.

Er saß unter dem Kirschbaum seines Heims. Die Blüten begannen zu fallen. Die Luft roch nach feuchter Erde und Abschied.

Sie reichte ihm das Papier. Er las ihn still. Kein Zittern in den Fingern. Nur ein kurzes Schließen der Augen am Ende.

„Ich wusste es“, sagte er. „Nicht genau. Aber ich habe es gespürt. Sie hat mich nicht vergessen.“

Roselinde setzte sich neben ihn.

„Ich bin nicht hier, um zu verzeihen“, sagte sie. „Ich bin hier, weil es endlich keine Fragen mehr gibt.“

Er sah sie an. In seinem Blick lag etwas Friedliches.

„Danke, dass du gekommen bist.“

In den Tagen danach bereitete Roselinde eine Ausstellung vor. Mit Frau Hennicke zusammen. In der alten Schule in Gardelegen.

“Die Briefe, die blieben” – so nannten sie sie.

Eine Wand mit unveröffentlichten Zeilen. Eine mit Namen, die gefunden wurden. Und eine, ganz still, ohne Worte – für das, was nie geschrieben wurde.

Tom bastelte kleine Schilder. Lene half beim Sortieren. Muck bewachte alles, als wäre es sein Lebenswerk.

Zur Eröffnung kamen mehr Menschen, als sie erwartet hatten. Junge und alte, manche mit Fotos, andere mit Tränen. Viele blieben lange vor dem Brief einer gewissen Frieda stehen, der still von einer Liebe sprach, die nie ankam, aber doch nie ganz verschwunden war.

Am Abend, als alle gegangen waren, blieb Roselinde allein im Raum zurück. Das Licht gedämpft, der Staub tanzte im letzten Sonnenstrahl.

Sie trat zu einem kleinen Glaskasten. Darin lag ein besonderer Brief – der erste, den sie gefunden hatte.

„Ich habe niemanden mehr.“

Roselinde legte die Hand an die Scheibe.

„Doch“, sagte sie leise. „Jetzt schon.“

Draußen warteten Tom und Georg auf sie. Der Wind roch nach Frühling.

Muck bellte kurz, dann trottete er voraus.

Auf dem Heimweg fuhr Roselinde schweigend.

Im Herzen keine Last mehr. Nur Stille. Und etwas, das sich wie Anfang anfühlte.

Zuhause angekommen, öffnete sie wie gewohnt den Briefkasten.

Ein einziger Zettel lag darin.

„Letzter Brief. Geh dorthin, wo alles begann.“

Mehr stand da nicht.

Roselinde sah auf. In ihren Augen spiegelte sich nicht Angst. Sondern Entschlossenheit.

Und als sie sich auf den Weg machte, wusste sie nicht, dass sie diesmal nicht nach Antworten suchte, sondern nach Abschied

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