Der Hund im Briefkasten | Ein Zettel, ein Hund, ein alter Briefkasten und eine Reise in die eigene Vergangenheit

🐾 Teil 10: Der letzte Brief

Der Zettel war kurz gewesen, nur ein einziger Satz. Und doch hatte er mehr ausgelöst als viele Seiten, die sie in den letzten Wochen gelesen hatte. Roselinde saß nun wieder am Steuer ihres kleinen Opel, fuhr durch das alte Land zwischen Gardelegen und Kalbe, vorbei an Rapsfeldern, stillgelegten Bahnhöfen, jenen Orten, die nie auf Postkarten erscheinen, aber in der Seele bleiben.

„Geh dorthin, wo alles begann“, hatte dort gestanden. Und so fuhr sie zurück zu dem Haus, das lange geschwiegen hatte dem alten Hof in Buchhorst, wo ihre Großmutter einst lebte, wo der Taubenschlag Briefe bewahrte, die niemand holen kam.

Der Hof war still. Die Tür schien sie zu erwarten. Muck sprang aus dem Wagen, schnüffelte kurz, lief dann in Richtung Stall. Roselinde folgte ihm.

Der Himmel war milchig, das Licht weich. Keine Spur von Bedrohung. Nur Erinnerung.

Sie betrat die alte Scheune, ging an dem Fleck vorbei, an dem sie einst die Metallkiste gefunden hatte. Nichts hatte sich verändert. Und doch lag etwas in der Luft. Wie ein letzter Faden, der gespannt war – wartend auf die Hand, die ihn löst.

In der hintersten Ecke fand sie eine kleine Holzkiste. Nicht versteckt, einfach abgestellt, fast beiläufig. Darauf lag ein Brief.

Ohne Umschlag. Ohne Datum.

„Für Roselinde. Wenn du bereit bist, mich loszulassen.“

Sie setzte sich auf die Holzbank neben dem Fenster, das halb zerbrochen war und Lichtstreifen auf den Boden warf. Dann begann sie zu lesen.


„Kind,
wenn du das hier liest, hast du mehr erfahren, als ich je zu hoffen wagte.
Du hast Fragen gestellt, Antworten gefunden, und Menschen verbunden, die sich längst verloren glaubten.
Ich weiß, ich war nicht die Mutter, die du gebraucht hast. Ich habe geschwiegen, wo ich hätte sprechen sollen, und gezögert, wo ich hätte gehen müssen.
Aber ich habe dich geliebt. Leise. Stur. Und mit all dem, was ich noch in mir tragen konnte, nachdem das Leben mich leergeräumt hatte.
Dass du Briefe bewahrst, ist kein Zufall. Es ist das, was wir Frauen in dieser Familie immer getan haben: Wir haben Worte getragen, wenn niemand sie mehr hören wollte.
Du hast das getan, wozu ich nicht mehr den Mut hatte.
Und deshalb bitte ich dich nun: Lass mich los. Nicht aus Zorn. Sondern aus Liebe.
Denn dein Weg beginnt nicht in der Vergangenheit.
Sondern mit dem nächsten Schritt nach vorn.
Wenn du diesen Brief gelesen hast, geh zum Fenster und pfeif.
Er wird wissen, dass es Zeit ist.
In Liebe,
deine Mutter“


Roselinde legte das Papier auf ihren Schoß. Ihre Augen waren trocken. Nicht aus Gleichgültigkeit. Sondern weil in ihr etwas zur Ruhe kam, das lange gekämpft hatte.

Sie stand auf, ging zum Fenster, das in den Garten blickte. Muck lag dort unter einem Baum, döste im Schatten.

Sie pfiff einmal. Leise. Kurz.

Und aus dem Gebüsch kam eine Bewegung. Ein Mann trat hervor. Älter, mit leichtem Hinken. Er trug eine einfache Jacke, ein Notizbuch in der Hand.

Roselinde runzelte die Stirn.

„Entschuldigen Sie“, sagte der Mann, „ich soll Ihnen etwas übergeben. Von Ihrer Mutter. Sie hat es mir vor Jahren gegeben. Für den Fall, dass… na ja, dass es Sie eines Tages hierher zurückzieht.“

Er reichte ihr das Notizbuch. Dann ging er, ohne ein weiteres Wort, über das Feld davon.

Roselinde öffnete das Buch. Auf der ersten Seite stand:

„Liste der nicht zugestellten Briefe – von 1943 bis 1989“

Dutzende Namen. Adressen. Hinweise. Manche durchgestrichen, manche mit kleinen Kommentaren versehen.

Ganz hinten: ein Satz.

„Jeder Brief findet irgendwann seinen Weg. Wenn man ihn lässt.“

In den folgenden Wochen wurde Buchhorst wieder lebendig.

Roselinde richtete ein kleines Zimmer im alten Hof ein. Nichts Großes. Nur einen Tisch, ein Regal, ein Fenster mit Blick auf den Apfelbaum.

Sie nannte es „Das stille Postamt“.

Menschen kamen. Fragten nach. Brachten eigene Briefe. Suchten nach Spuren.

Lene kam fast jeden Samstag. Tom organisierte mit Georg eine kleine Ausstellung in der Schule. Frau Hennicke half beim Archivieren.

Und immer, wenn jemand fragte, warum sie das tat, antwortete Roselinde:

„Weil ein Brief mehr ist als Papier. Er ist eine ausgestreckte Hand. Auch dann, wenn sie lange niemand gehalten hat.“

Der Sommer kam früh in jenem Jahr. Die Felder leuchteten. Die Fenster standen offen. Und aus dem kleinen Raum am Rand von Buchhorst hörte man manchmal eine Spieluhr, die „Der Mond ist aufgegangen“ spielte.

Eines Abends saß Roselinde auf der Bank vor dem Haus. Muck neben ihr. Tom auf dem Boden, zeichnend. Georg lehnte am Türrahmen.

„Glaubst du“, fragte Tom, „es kommen noch viele Briefe?“

„Ja“, sagte Roselinde. „Aber nicht alle werden alt sein.“

„Was meinst du?“

Sie lächelte.

„Vielleicht schreiben jetzt Menschen wieder. Vielleicht fangen sie wieder an, einander wirklich zu sagen, was zählt.“

Als die Sonne unterging, öffnete sie zum letzten Mal das Kästchen mit den ersten Fundstücken. Der allererste Brief lag noch darin.

„Ich habe niemanden mehr.“

Sie nahm ihn heraus. Las ihn ein letztes Mal.

Dann schrieb sie mit ruhiger Hand darunter:

„Doch. Jetzt schon.“

Sie legte ihn zurück. Schob das Kästchen ins Regal. Und wusste:

Dies war kein Ende.

Es war ein neuer Anfang.


Manche Briefe kommen zu spät. Manche nie an.
Aber manchmal wenn wir genau hinsehen, bringt uns ein einziger Satz dorthin zurück, wo wir nie aufgehört haben zu hoffen.

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