🐾 Teil 4: Das alte Gartenhaus und die Kiste voller Erinnerungen
Die Sonne stand tief, als Margarete an diesem Morgen das Haus verließ. Der Frühling war in der Stadt angekommen, die Luft trug den Geruch von nassem Stein und frischen Blüten.
Auf dem Weg zur Haltestelle spürte sie zum ersten Mal seit langer Zeit eine Art Vorfreude. Nicht auf den Markt, nicht auf irgendeinen Einkauf, sondern auf das stille Ritual, das sie inzwischen verband: die Fahrt mit Tabor.
An der Haltestelle wartete er bereits. Er saß aufrecht, die Pfoten geordnet nebeneinander, den Blick auf die Straße gerichtet. Als der Bus kam, bewegte er sich mit derselben Ruhe wie immer. Doch Margarete bildete sich ein, dass sein Kopf sich kurz nach ihr drehte, als hätte er ihr Kommen erwartet.
Sie setzten sich nebeneinander, und der Bus begann seine Fahrt durch Kassel. Vorbei an grauen Häusern, an Menschen, die hastig ihren Alltag lebten.
Für Margarete war es, als wären sie abgeschirmt in einer eigenen Welt. Die Geräusche drangen dumpf an ihr Ohr, aber was zählte, war der warme Körper des Hundes neben ihr, die gleichmäßigen Atemzüge, das Gefühl von Beständigkeit.
An der Endhaltestelle erhob sich Tabor. Sein Gang war langsamer geworden, ein wenig steif in den Hinterläufen. Margarete erkannte, dass die Jahre schwer auf ihm lagen. Sie folgte ihm, Schritt für Schritt, durch die vertraute Straße bis zum Gartentor.
Helene stand draußen, als habe sie beide erwartet. In der Hand hielt sie einen alten Schal, den sie um die Schultern gelegt hatte. „Er ist heute unruhig“, sagte sie, kaum dass Margarete den Fuß über die Schwelle setzte.
Der Hund lief nicht sofort zu seiner Ecke, sondern blieb im Garten stehen, schnupperte lange an einem bestimmten Fleck Erde, dann sah er die beiden Frauen an. Sein Blick war fragend, fast fordernd.
„Manchmal führt er uns“, erklärte Helene. „Als wüsste er, was wir vergessen haben.“
Sie gingen hinter ihm her. Der Weg führte zu einem verwitterten Schuppen am Ende des Gartens. Die Tür hing schief in den Angeln, das Holz war von der Witterung grau geworden. Tabor blieb davor stehen und setzte sich, den Blick fest auf die Frauen gerichtet.
Helene zögerte, dann drückte sie die Tür auf. Ein Geruch nach Staub und alter Erde stieg ihnen entgegen. Im Inneren stapelten sich Kisten, Regale mit Gläsern, vergilbte Werkzeuge. In einer Ecke stand eine Holzkiste, auf der der Name „Wilhelm Riedel“ eingraviert war.
„Ich habe diese Kiste seit Jahren nicht angerührt“, flüsterte Helene. „Ich konnte es nicht.“
Margarete trat näher. Ihre Finger glitten über das Holz, kalt und rau. Sie sah, wie Helene die Kiste öffnete. Darin lagen Erinnerungen: ein altes Hemd, sorgfältig gefaltet, ein Notizbuch mit verblichenen Einträgen, ein Taschenmesser mit abgenutztem Griff.
Ganz unten lag ein Foto, eingerahmt und leicht zerkratzt. Darauf war Wilhelm zu sehen, jung, lachend, mit Tabor als kräftigem Hund an seiner Seite.
Helene nahm das Bild in die Hände, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe ihn hier versteckt, weil es zu weh tat, ihn anzusehen. Aber er…“ Sie sah auf den Hund. „Er hat es nicht vergessen.“
Margarete spürte, wie ihr Herz schwer wurde. In Helenes zittrigen Händen lag nicht nur ein Foto, sondern ein Stück Leben, das längst vergangen war und doch weiter atmete. Der Hund war der letzte Zeuge davon, ein stiller Bewahrer.
„Vielleicht wollte er, dass Sie es wiedersehen“, sagte Margarete leise.
Helene nickte langsam. „Vielleicht.“ Sie setzte sich auf einen alten Stuhl, das Bild auf den Knien. „Es ist, als würde er mich zwingen, noch einmal hinzuschauen. Als könnte ich nicht ewig davor weglaufen.“
Die Stille im Schuppen war dicht, nur unterbrochen vom Atem des Hundes. Margarete sah ihn an und spürte, dass auch sie selbst gezwungen wurde, sich dem zu stellen, was sie so lange verdrängt hatte. Die Erinnerung an Klaus war plötzlich wieder greifbar, nicht mehr nur wie ein ferner Schatten. Sie erinnerte sich an seinen Geruch, an das Geräusch seiner Schritte im Haus, an die Wärme seiner Hand. Es traf sie wie ein Schlag.
Später, als sie wieder am Küchentisch saßen, fragte Helene: „Haben Sie auch jemanden verloren?“
Margarete nickte. „Vor acht Jahren. Fast zur selben Zeit wie Sie.“
Ein tiefer Blick ging zwischen ihnen hin und her. Kein Mitleid, keine Erklärung. Nur das stille Wissen, dass sie beide in derselben Dunkelheit gelebt hatten.
„Vielleicht hat uns der Hund zusammengeführt“, sagte Helene schließlich.
Margarete konnte nicht anders, sie musste lächeln. „Vielleicht.“
An diesem Nachmittag blieb sie länger als sonst. Sie half Helene, den Schuppen zu ordnen, stellte Kisten beiseite, wischte Staub von alten Gläsern. Der Hund lag dabei wie ein Wächter in der Tür, beobachtete jede Bewegung, als wolle er sicher sein, dass nichts verloren ging.
Als die Sonne langsam unterging, verabschiedete sich Margarete. Im Bus zurück spürte sie eine seltsame Mischung aus Müdigkeit und Klarheit. Es war, als hätte Tabor ihr nicht nur den Weg zu Helene gezeigt, sondern auch zu einem Teil von sich selbst, den sie so lange vergraben hatte.
Zu Hause setzte sie sich an den Küchentisch und holte eine alte Schachtel aus der Kommode. Darin lagen Briefe von Klaus, vergilbt, manche mit Kaffeeflecken, manche mit knitterigen Ecken. Sie hatte sie nie weggeworfen, aber auch nie wieder gelesen. Jetzt hielt sie einen davon in der Hand und las die ersten Zeilen. Ihre Hände zitterten, und doch fühlte sie eine seltsame Ruhe.
Am nächsten Morgen nahm sie nicht nur den Bus, sondern auch ein kleines Päckchen mit. Sie legte einige Briefe hinein, die sie Helene zeigen wollte. Sie spürte, dass es an der Zeit war, auch ihr eigenes Schweigen zu brechen.
Der Hund wartete wie immer an der Haltestelle. Sein Blick war sanft, fast wissend. Margarete setzte sich neben ihn und legte die Hand auf seinen Rücken. Sie sprach kein Wort, aber in diesem Augenblick war alles gesagt.
Als sie gemeinsam die Stadt verließen, wusste sie, dass dieser Weg mehr war als eine Routine. Es war eine Reise zurück in ihr eigenes Leben.
Und irgendwo tief in ihr ahnte sie, dass der Hund sie noch weiter führen würde.
Morgen wird er die nächste Tür öffnen.