🐾 Teil 5: Die vergessenen Briefe und eine Stimme aus der Vergangenheit
Der Himmel über Kassel war an diesem Morgen von einem zarten Grau überzogen. Der Frühling zeigte sich träge, ein Wind wehte kühl durch die Straßen. Margarete hielt das kleine Päckchen mit den Briefen fest in den Händen, während sie zur Haltestelle ging. Ihre Finger zitterten, nicht vor Kälte, sondern vor Erwartung.
Tabor saß bereits dort, wie immer. Sein Blick war ruhig, als hätte er sie erwartet. Als der Bus kam, sprang er hinauf, und sie setzte sich direkt neben ihn. Heute war der Wagen voller Schüler, Stimmen füllten den Raum, Lachen, Musik aus Handys.
Doch Margarete hörte kaum etwas davon. Ihr Herz schlug laut, weil sie wusste, dass sie gleich etwas tun würde, das sie seit Jahren vermieden hatte.
Die Fahrt verging, wie sie immer verging. Haltestelle um Haltestelle, Gesichter, die kamen und gingen. Nur sie und der Hund blieben. Und mit jeder Minute wurde das Päckchen in ihrem Schoß schwerer.
An der Endstation erhob sich Tabor, sein Gang langsam, aber bestimmt. Margarete folgte ihm, den Korb mit den Briefen fest umklammert. Helene wartete am Gartentor. Sie trug einen dunklen Mantel, die Schultern leicht gebeugt. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die beiden sah.
„Sie haben etwas mitgebracht“, sagte Helene und wies auf das Päckchen.
Drinnen in der Hütte stellte Margarete es auf den Tisch. Ihre Hände zögerten, dann öffnete sie es. Alte Umschläge kamen zum Vorschein, vergilbt, manche mit verblassten Poststempeln. „Das sind Briefe von Klaus“, sagte sie mit leiser Stimme. „Ich habe sie nie wieder gelesen. Aber vielleicht… vielleicht sollte ich.“
Helene nickte nur. Sie machte keine Fragen, keine Bemerkungen. Sie schob ihr eine Tasse Tee hin, während der Hund sich unter den Tisch legte. Sein Kopf ruhte auf den Pfoten, die Augen halb geschlossen, doch er schien zu lauschen.
Margarete nahm den ersten Brief. Die Schrift war krakelig, in Eile geschrieben. „Meine liebe Gretel“, begann er. Sie spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Klaus hatte sie so nur selten genannt, und das Wort klang plötzlich wie eine ferne Stimme aus einer anderen Zeit.
Sie las den Brief laut vor. Es war nichts Besonderes – ein kurzer Gruß aus der Werkstatt, eine Bemerkung über das Wetter, ein Versprechen, abends pünktlich zu Hause zu sein. Doch in diesem Versprechen lag all das, was nicht mehr war.
Als sie fertig war, herrschte Stille. Helene legte ihre Hand auf Margaretes. „Es ist gut, dass Sie ihn wieder hören“, sagte sie.
Margarete nickte, und eine Träne lief über ihre Wange. „Ich habe so lange geschwiegen. Ich dachte, wenn ich die Briefe nicht ansehe, wird der Schmerz kleiner. Aber er ist nur stiller geworden, nicht leichter.“
Der Hund hob den Kopf, als hätte er die Schwere gespürt. Sein Blick war sanft, beinahe tröstend. Margarete streckte die Hand unter den Tisch, und er legte seine Schnauze kurz hinein.
Sie verbrachten den Vormittag mit den Briefen. Margarete las einige vor, andere ließ sie still in ihren Händen. Helene hörte zu, manchmal erzählte sie im Gegenzug von Wilhelm, wie er im Garten gesungen hatte, wenn er die Beete umgrub, oder wie er sonntags alte Märsche auf der Schallplatte hörte. Zwei Leben, zwei Männer, zwei Verluste – und doch spiegelte sich in allem dasselbe Gefühl.
Am Nachmittag führte Helene sie in ein Zimmer, das Margarete bisher nicht gesehen hatte. Es war klein, kaum mehr als eine Kammer, doch an den Wänden hingen Bilder. Wilhelm in Uniform, Wilhelm bei der Arbeit, Wilhelm mit Tabor als jungem Hund. Es war wie ein stilles Museum, eine Sammlung von Augenblicken, die aufgehört hatten, lebendig zu sein.
„Ich habe sie aufgehängt, damit er nicht verschwindet“, sagte Helene. „Aber manchmal denke ich, ich habe mich damit selbst eingesperrt.“
Margarete stand vor einem Bild, auf dem Wilhelm auf einem alten Fahrrad lachte. Sie erinnerte sich an Klaus, wie er sie früher auf seinem Rad mitnahm, als sie jung waren. Plötzlich fühlte sie, wie sich in ihrer Brust ein Knoten löste.
„Vielleicht geht es nicht darum, festzuhalten“, sagte sie. „Vielleicht darum, dass wir uns erinnern und trotzdem weitergehen.“
Helene sah sie lange an, als müsse sie die Worte prüfen. Dann nickte sie langsam.
Der Hund stand in diesem Moment auf, trat zwischen sie und legte seine Schnauze in Helenes Hand. Sie streichelte ihn, und ihr Gesicht wurde weich. „Er hat uns beide hierhergeführt. Vielleicht, weil er wusste, dass wir allein nicht weiterkommen.“
Sie setzten sich noch einmal in den Garten, die Sonne brach durch die Wolken und warf ein mildes Licht über die verwilderten Beete. Tabor lag zwischen ihnen, halb dösend, halb wachsam.
„Wissen Sie, Margarete“, sagte Helene, „seit Jahren habe ich niemandem mehr so offen erzählt. Ich dachte, mein Leben sei zu Ende, als Wilhelm ging. Aber heute… heute habe ich das Gefühl, dass es noch etwas gibt, das mich erwartet.“
Margarete nickte. „Mir geht es genauso.“
Sie schwiegen, und die Stille war diesmal keine Last. Es war die Art Stille, die füllt, nicht die, die leert.
Als Margarete am Abend den Bus zurücknahm, hielt sie das Päckchen mit den Briefen fester denn je. Sie wusste, dass sie noch viele davon lesen musste. Aber sie wusste auch, dass sie es nun konnte. Nicht allein, sondern in Begleitung.
Auf der Rückfahrt sah sie ihr eigenes Spiegelbild im Fenster. Ihr Gesicht war älter, die Falten tiefer. Doch ihre Augen hatten ein anderes Licht, ein Funken von Wärme, den sie lange nicht mehr gespürt hatte.
Und als der Bus durch die vertrauten Straßen rollte, dachte sie an den Hund, an Helene, an all das, was noch kommen würde.
Morgen wird er uns an einen Ort führen, den wir beide vergessen haben.